Doch trug sich während dieser so turbulenten wie wunderbaren Zeit eine kleine Begebenheit zu, die für mein Leben möglicherweise gar keine kleine Begebenheit gewesen sein könnte. Und das ist eben die eigentliche Geschichte beziehungsweise der Aspekt, um den es mir hier eigentlich geht. Ich kann heute nicht mehr so richtig einschätzen, wie vielen der jungen Damen ich damals durchaus gefallen hatte, aber wie es bei Mädchen ja so üblich ist, wurde mir eines Abends auf einer Party gesteckt, dass da ein Mädchen wäre, das doch ganz besonders nett sei und es schön wäre, wenn ich mich doch einmal mit ihr unterhalten würde. Frauen wissen natürlich nur zu genau, was das zu bedeuten hatte. Frauen wissen, dass dies schon kein Wink mit dem Laternenpfahl mehr war, sondern ein Hieb mit selbigem auf die Rübe. Junge Männer wissen das aber in der Regel nicht, so auch ich damals nicht. Möglicherweise ahnte ich es aber zumindest in einem gewissen Maße; in jedem Falle war ich höflich genug, dem wohlmeinenden Wink zu folgen und sprach das gewisse Mädchen an. Sie war wirklich sehr hübsch und hatte eine klasse Figur, deren verlockende Rundungen sich durch die eng anliegenden Jeans deutlich abzeichneten, und bei alledem war sie auch noch überaus intelligent und sehr charmant.

Doch es gab da ein gewaltiges Problem!

Der eine ihrer oberen Schneidezähne war schief gewachsen und zwar nicht nur ein bisschen schief sondern stand in einem Winkel von gefühlt fünfundvierzig Grad schräg in ihrer ansonsten ansehnlichen weißen Zahlenreihe. Mir stach diese Auffälligkeit jedenfalls extrem ins Auge, ja ich empfand es als einen gravierenden Makel an diesem Wesen überhaupt, es war als ob ein echtes Meisterwerk einfach quer durchgestrichen wäre.
Es ist ja manchmal so, dass es gewisse Kleinigkeiten gibt, die ganz objektiv nichts weiter als Kleinigkeiten sind, die aber einfach ins Auge stechen, weil sie etwa in einem bestimmten Kontext völlig deplatziert sind, so dass es der Wahrnehmung einfach nicht möglich ist, diese auszublenden. Ein wunderbares Beispiel hierfür ist der bekannte Sketch von Loriot mit der Nudel, die überall an ihm umherwandert und von der nicht nur Evelyn Hamann sondern auch der Zuschauer nicht seine Aufmerksamkeit lösen kann. Der Anblick eines solchen Fremdkörpers in einer bestimmten Umgebung ist in der Lage, alles andere um ihn herum optisch verblassen zu lassen und in einer solchen Weise irritierte mich eben dieser so auffallend schief stehende Zahn an diesem Wesen, wobei in meinem Inneren ein heftiger Kampf mit essenziellen ethischen Grundsätzen tobte, die anmahnten, dass eine solche Äußerlichkeit doch eigentlich keine Bedeutung haben dürfe und da dies ein überaus zähes Ringen war, verbrachte ich denn doch längere Zeit mit ihr. In unserem Zusammensein bemerkte ich allerdings etwas höchst Merkwürdiges. Aus der Art, wie sie mit mir sprach, konnte ich fühlen, dass ich für sie etwas ganz besonderes darstellte, ja dass sie geradezu hingerissen davon war, dass sie überhaupt mit mir reden konnte und ich spürte, wie sehr mich wiederum ihr Entzücken berührte und dies etwas mit in mir bewirkte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich spüren konnte, wie es sich anfühlt, wenn einem eine Frau Liebe entgegenbringt – beziehungsweise, wie man es in diesem Fall wohl richtigerweise sagen sollte: ein Mädchen seine Verliebtheit geradezu verströmt. Aber es war in jedem Falle ein aufrichtiges und ehrliches, ein authentisches Gefühl das sie für mich aufbrachte, das war ganz deutlich zu spüren. Ich werde auch nie vergessen, wie wir später am Abend miteinander tanzten und das damals ‚Stehblues’ genannte, unvermeidliche, langsame Stück gespielt wurde und sie mich eng und sehnsuchtsvoll umschlang. Ich konnte nun auch noch spüren, wie sehr sie diese körperliche Nähe zu mir genoss und ich spürte ebenso ihre Begehrlichkeit. Ich erinnere mich heute noch sehr gut daran, es war ein Gefühl, welches es eigentlich vermag, die Welt aus den Angeln zu heben. Die Welle an Gefühlen, die sich aus ihr heraus erhob, war gleich einem Tsunami. Und ich weiß heute auch, dass es mehr als zwanzig Jahren dauern sollte, bis mir das Schicksal erneut die Gunst erweisen sollte, es einzurichten, dass eine Frau mir solche Gefühle entgegenbringt und das dann nicht einmal in dem außergewöhnlichen Maße, wie ich es bei diesem ersten Mal hatte spüren können. Und es ist eben auch wegen der Erinnerung an dieses Erlebnis, dass ich heute weiß, dass weder meine Frau noch meine Lebensgefährtin mir jemals eine so überströmende Liebe entgegengebracht haben. Heute ist mir unbegreiflich, dass es damals hatte geschehen können, dass mir dieser doch eigentlich unbedeutende äußerliche Makel, dieser eine, lächerliche, schiefstehende Zahn derart zu schaffen gemacht hatte. Doch es war für mich damals eben so, dass bei dem Überangebot an Liebreiz und Schönheit in jenem Kreis ein Mädchen mit einem so furchtbar schiefstehenden Zahn einfach ein ‚Nogo’ war. Jedenfalls schenkte ich ihr nach diesem Abend keine Beachtung mehr. Die Aussicht, eine meiner Auserkorenen zu erobern, erschien mir damals noch als aussichtsreich und war aus meiner damaligen Sichtweise lukrativer als die Möglichkeiten, die sich auf einer menschlichen Ebene eröffnen, wenn man von einem Menschen von ganzem Herzen geliebt wird.

Aus meinem heutigen Wissensstand, was die Psychologie angeht, muss ich allerdings sagen, dass mich damals wahrscheinlich allein die Möglichkeit, dass eine größere Nähe zu einer Frau hätte entstehen können, in Angst und Schrecken versetzt hatte, sich also die unseligen Prägungen aus meiner Kindheit und die daraus entstandene Verunsicherung in Bezug auf das weibliche Geschlecht überkommenen hatten und mich die Angst vor der seelischen wie körperlichen Berührung durch ein Mädchen ergriffen hatte. Möglicherweise war ja der Umstand, dass ich mich an dieser Äußerlichkeit so sehr gestoßen hatte, nur ein Fluchtpunkt, eine von meinem Unbewussten betätigte Notbremse, um mich meinen tiefsten Ängsten nicht stellen zu müssen.

Jedenfalls musste ich einige Wochen später das schöne München verlassen um im fernen Odenwald, einer Gegend, die nicht zu Unrecht badisch Sibirien genannt wird, meinen Dienst anzutreten und es war mir nicht gelungen, in der kurzen mir verbliebenen Zeit so enge Bindungen zu einem der Mädchen zu flechten, dass es möglich gewesen wäre, in deren Umfeld Fuß zu fassen und häufig genug in München präsent zu sein, um wirklichen Kontakt zu halten.
Ich traf mich noch einige wenige Male mit den von mir erkorenen, aber eben nicht willigen Favoritinnen und so kam es denn auch, dass mir erst nach viel zu langer Zeit  bewusst wurde, dass jenes Mädchen möglicherweise doch etwas Besonderes gewesen sein könnte und ich fragte zwei oder drei Jahre später bei einem der selten gewordenen Besuche in München, was sie denn heute so mache – sie hatte damals ja diesen schiefen Schneidezahn?
„Ach, den schiefen Zahn hat sie gleich nach dem Abitur richten lassen, das war ja auch tatsächlich dringend nötig gewesen, aber kein Problem. Ja, sie studiert jetzt in Hamburg, sie hat gerade ein Auslandssemester beendet und, ach schau mal, sie hat auch den Segelschein gemacht, ich hab’ hier ein Foto.“
Ich bekam ein Foto hingehalten, auf dem eine hinreißend schöne junge Frau strahlend am Ruder einer Jolle posierte und sogar über diesen beiläufigen Schnappschuss das reinste Glück ausstrahlte.

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