Höhere Macht

Ein Meister hat sein eigenes Ego zu der Einsicht gebracht, dass da eine höhere Macht ist, gegen die es nichts, aber auch gar nichts auszurichten vermag und es war ein hartes Stück Arbeit, dies einem gesunden Ego beizubringen. Er weiß aus seinem Verständnis der tieferen Zusammenhänge in dieser Welt, dass es klug ist, dieser Macht gegenüber eine unbedingte Demut zu an den Tag zu legen.

Die Menschheit ist heute ja auf einem Entwicklungsstand angelangt, auf dem das Individuum und dessen Potenzial in den Mittelpunkt gestellt wird und die Sinnfrage wird vor allem darauf abgehoben, was der einzelne Mensch ganz praktisch zu erreichen vermag. Das ist ganz zweifellos ein gewaltiger Fortschritt in der geistigen Entwicklung der Menschheit, allerdings hat unsere Zeit ebenso die Tendenz, davon auszugehen, dass alles und auch wirklich alles nur von der Anstrengung und Leistung des Einzelnen abhängt und wenn man sich nur genügend anstrengt, man alles erreichen kann und wenn einem dieses nicht gelingt, man sich eben nicht genügend angestrengt hat oder einfach zu doof war. Diese Philosophie, die ja an sich im Grunde schon unsäglich ist, ist mittlerweile ja zu einem fatalen Machbarkeitswahn ausgeartet. Ein Wahn, der, nebenbei gesagt, für die meisten Menschen auch nur so lange anhält, wie sich ihnen einfach der Zufall als gnädig erweist und ihn nicht irgendein Schicksalsschlag einholt. Doch dieser Machbarkeitswahn
beruht ja auf der Vorstellung einer Kausalität zwischen Leistung und Erfolg; man leistet etwas und hat dann Erfolg. Doch es gibt ebenso viele Einzelschicksale, die diese Vorstellung widerlegen, denn es gibt ja so viele In meinem Buch befasse ich mich ausführlich mit eben diesem Phänomen. aber eine angemessene Behandlung würde diesen Rahmen sprengen. Es ist derzeit ohnehin nicht angesagt, diese Vorstellungen einer Machbarkeit, die derzeit so en vogue sind, zu hinterfragen. 
Und gerade dies ist ein ganz wichtiger Punkt, in welchem sich das Verständnis eines Meisters des Lebens von der allgemeinen Denkweise unterscheidet. Er hat einen anderen Blick auf dieses Leben und vermag das wirkliche Verhältnis zwischen menschlicher Anstrengungen als der Ursache und den tatsächlich bestehenden Lebensverhältnissen als deren (vermeintliche) Wirkung wesentlich klarer zu sehen. Denn er sieht nur allzu deutlich, welche Rolle der Zufall beziehungsweise so etwas wie Fügung bei alledem doch spielt, und der Einfluss des Zufalls fegt letztlich jegliche Vorstellung von der Gesetzmäßigkeit irgendeiner Kausalität hinweg. Ein Meister des Lebens vermag in diesem so gar nicht durchschaubaren Ineinandergreifen der Räder der unüberschaubaren Maschinerie des Lebens das Muster des Konstruktionsplanes einer höheren Intelligenz zu erkennen und in dem, was den meisten Menschen als bloße Zufälligkeit erscheint, einen höheren Sinn zu erahnen.
Und er hat zudem die Erfahrung gemacht, dass er mit all seinen Anstrengungen – und würde er auch alle Kräfte aufbieten, die er sich angeeignet hat –, nichts gegen diese höhere Macht auszurichten vermag. Johann Wolfgang von Goethe hat eben dies in seinen ‚Wahlverwandtschaften’ ja in einer so wunderbar literarischen Form ausgedrückt: „Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen.“ [Fußnote: Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Patmos Verlag, Düsseldorf 2009, Vierzehntes Kapitel, Seite 250] Und es ist eben diese intuitive Einsicht in das Leben selbst, die nur ein Meister hat – und aller Wahrscheinlichkeit nach war Goethe eben ein solcher Meister. Ein Meister des Lebens gestaltet sein Leben aktiv, ist sich aber stets bewusst, dass er ohne das Einvernehmen mit dieser kosmischen Macht rein gar nichts auszurichten vermag, so dass er stets darauf bedacht ist, sich mit dieser Macht im Einklang zu befinden. Er weiß, dass Leben bedeutet, letztlich dieser Macht ausgeliefert zu sein. Die Reaktion unbewusster Menschen auf eine solche Einsicht ist normalerweise die des Erschreckens: Wie? Ich soll nichts tun können, nichts liegt in meiner Hand? Ich bin ein Spielball des Schicksals? Das kann nicht sein! Wenn ich etwas tue, dann bewirkt das auch etwas, dann muss das doch auch etwas bewirken. Das ist durchaus richtig. Ich bin der Überzeugung, dass es sich hier um eine intensive Wechselwirkung handelt mischen menschlichem tun und dieser kosmischen Intelligenz, wenn man nichts tut, sich nicht einbringt, so wird auch nichts geschehen, aber was geschieht oder was am Ende dabei herauskommt, darüber entscheidet einer anderen Macht beziehungsweise dieser hat das letzte Wort darüber. 
Doch gerade hierin unterscheidet sich ein Meister von der Masse der unbewussten Menschen. Ein Meister weiß, dass es zwar eine Macht gibt, die in der Realität eingreift, eben aber nicht in der Form eines unausweichlichen Schicksals – er weiß, dass er etwas tun kann und tun muss, nur eben nicht gegen diese Macht, wenn sie denn etwas anderes mit ihm vor hat. Er hat sich geistig entwickelt und darüber zu einem Einklang mit dieser Macht gefunden und er wird als Folge dieser Entwicklung irgendwann von der Gewissheit getragen, dass sich alles zu einer höheren Sinnhaftigkeit hin entwickelt und vertraut auf eben diese höhere Macht, auch wenn sie ihm regelmäßig Knüppel vor die Beine zu werfen scheint. Doch er hat eben die Erfahrung gemacht, dass ihn gerade diese letztlich in seiner Entwicklung weiter bringen.
Das heißt, ein Meister des Lebens erledigt die Aufgaben, die sich ihm stellen, nach bestem Vermögen und hat ein tiefes Vertrauen darin, dass sich sein Leben zu einem Guten fügen wird, auch wenn sich seine Lebensumstände zeitweise nicht so entwickeln, wie sie ihm vordergründig genehmer wären.

Wenn man einen Meister des Lebens erlebt, so spürt man ganz unmittelbar, dass eine Haltung, die von solch einer Demut aus einer weisen Einsicht in die Dinge des Lebens getragen ist, dem Leben selbst doch näher steht, ja sich in dieses Leben besser eingepasst und einfach authentischer wirkt, als der brachiale Zwangsoptimismus all der Eisenfresser, die jenem unsäglichen Machbarkeitswahn anhängen. 
Man vermag an einem Meister eben dieses gewisse Urvertrauen in die Schöpfung zu spüren, das auf die Anhänger der Leistungsideologien so befremdlich wirkt, da diese sich aus ihrem persönlichen Erleben immerfort von den Unwägbarkeiten eines seelenlosen Zufalls gebeutelt fühlen, der die Läufe ihrer Planungen und Aktivitäten ständig durchkreuzt.

Die Haltung eines Meisters ist dagegen von jener gewissen, subtilen Demut gegenüber dem Gang des Lebens und dem Wirken einer gewissen Macht, die er darin zu erkennen vermag, geprägt.

Menü schließen