Dunkle Seite

sich des eigenen Schattens bewusst werden und diesen integrieren

Ein Meister des Lebens hat sich mit seiner eigenen dunklen Seite ausgesöhnt. Es ist die ureigene Funktionsweise der menschlichen Psyche, ein gefälliges Bild der eigenen Persönlichkeit aufrechtzuerhalten und sie verfügt dazu über den verblüffenden Mechanismus der Verdrängung, das heißt sie blendet grundsätzlich alle eigenen Schwächen aus, beschönigt sie zu Lappalien oder wandelt sie gar in positive Eigenschaften um; so schafft es ein überheblicher, gehässiger Zyniker, sich selbst als jemanden zu sehen, der nach seinem eigenen Dafürhalten einfach die Welt besser machen will, er sich subjektiv einfach nur abgenervt fühlt, weil er anderen ständig sagen muss, was sie alles falsch machen und sieht sich selbst als heroischer Kämpfer gegen die allgegenwärtige Unfähigkeit der anderen. Und wer sich näher mit der Materie befasst, weiß, dass auch ein Mörder oder ein Kriegsverbrecher sich selbst im Grunde für gute Menschen halten, die in bestimmten Situationen einfach nicht anders handeln konnten.
Es ist ja für jemanden, der seine Mitmenschen aufmerksam zu beobachten vermag, offensichtlich, dass der Mensch ganz grundsätzlich auch über ziemlich üble Eigenschaften verfügt, die sieben Todsünden der christlichen Lehre sind ja ein entsprechend schauerliches Kabinett solcher Eigenschaften.
Und es ist in Bezug auf dieses Böse in der menschlichen Seele schon immer die gebräuchliche Auffassung, dass es darauf ankäme, diese dunklen Seiten in uns auszumerzen, gegen sie anzukämpfen, sie zu unterdrücken, ja möglichst ganz aus dem Bewusstsein zu verbannen. Und es herrscht weiterhin bedauerlicherweise schon von jeher auch der Irrglaube, man könne sein Bewusstsein schmieden und seinen Geist so disziplinieren, dass man alles Übel aus ihm gewaltsam austreibt. Doch mittlerweile  weiß man ja, dass dies vor allem dazu führt, dass diese gewaltsam unterdrückt werden und – was heutzutage eben eigentlich gar kein Geheimnis mehr sein sollte – erhebliche Störungen in der Psyche zur Folge hat. Leider befördern die meisten Religionen auch noch diesen fatalen Irrtum, was nur dazu führt, dass sie alles Übel im theologischen Konstrukt eines Teufels zementieren und auch das führt zu erheblichen Problemen in der Einstellung zu den Dingen des Lebens.
Es gibt jedoch eine ganze Reihe spiritueller Lehren, die da eine deutlich fortschrittlichere Vorstellung vom Wesen der menschlichen Seele haben – zudem decken sich diese Vorstellungen ja auch mit den so wichtigen Erkenntnissen der modernen Tiefenpsychologie. Diese Auffassungen besagen, dass eben alle Aspekte des menschlichen Bewusstseins Eigenschaften sind, die den Menschen an sich ausmachen. Und im Grunde verhält es sich ja so, dass etwa die Aggression nichts an sich schlechtes ist, sondern eine Notwendigkeit des Überlebens ist, eben die Befähigung, um das eigene Leben zu kämpfen und seine Existenz zu wahren. Und letztlich gehen auch psychische Impulse wie Neid, Missgunst oder Zorn letztlich auf die Notwendigkeit zurück, innerhalb einer Gruppe zu überleben, da sie Impulse sind, innerhalb einer Gruppe die Ressourcen zu behaupten, die für das eigene Überleben erforderlich sind. Im Wesentlichen sind die meisten Verhaltensweisen, die in einer entwickelten Gesellschaft zu inakzeptablen Auswüchsen führen und als böse angesehen werden, natürliche Antriebe im menschlichen Verhalten, die aber, wenn sie nicht kultiviert sind, zu all den asozialen Verhaltensweisen werden können, welche die Gemeinschaft zurecht als Fehlverhalten empfindet, und uns im Extremfall als das Böse an sich erscheint. Natürlich ächten heute alle Kulturen diese problematischen Impulse des menschlichen Bewusstseins.  
Doch es gibt eben schon seit jeher auch spirituelle Lehren und Erkenntnismodelle – und seit dem vergangenen Jahrhundert tritt diesen ja auch die Tiefenpsychologie zur Seite –, die besagen, dass es für eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit unabdingbar ist, die eigenen dunklen Seiten eben nicht zu unterdrücken oder gar zu verteufeln, sondern sich diese bewusst zu machen und in einem weiteren Schritt als ein Teil der eigenen Identität zu verstehen und sich mit ihnen auszusöhnen. Das heißt natürlich nicht, dass man all seine Schattenseiten hemmungslos auslebt und sich fürderhin als aggressives und zynisches Arschloch aufführt, weil ein solcher Impuls ja ein so wichtiger Teil der eigenen Identität ist, aber es heißt durchaus, dass sich ein Mensch, der sich bislang immer nur brav in die Unterdrückung durch sein sozialen Umfeldes, etwa der Familie oder der Arbeitswelt eingefunden hat, über eine solche Bewusstseinsentwicklung die Aggression nicht mehr gegen sich selbst sondern endlich gegen die Unterdrücker, gegen den gemeinen Bruder, die böse Stiefmutter, gegen den boshaften Kollegen oder den unterdrückerischen Chef richtet. Wie C.G. Jung das einmal in einen so schönes Bild gefasst hat: wenn wir nur Licht sind, so sind wir nicht erkenntlich, erst durch Schattierungen, die auch unsere Ecken und Kanten sichtbar werden lassen, erhalten wir ein erkennbares Profil.

Wenn man einem Meister des Lebens persönlich begegnet, so erhält man einen Eindruck davon, was die Integration der Schattenseite in eine Persönlichkeit zu bewirken vermag, denn eine erfolgreiche Integration bedeutet, dass der Schatten sich nicht mehr unkontrolliert das Verhalten bestimmt, sondern dass er sinnvoll eingebunden ist und so sind Meister des Lebens niemals immer nur sanfte, mildtätige, alles beschönigende Menschen, die ständig in Licht und Liebe wandeln, sondern sie sind eben auch Krieger des Lichts und es gehört zum Handwerk eines Kriegers, zur rechten Zeit auch zuzuschlagen und den Kampf aufzunehmen und das ist wiederum nur möglich, wenn ein Krieger auch seine Aggression abrufen kann.
Man merkt einem Meister des Lebens an, dass auch ein Krieger in ihm schlummert und er vermag auch – was hier ja noch gar nicht angeklungen ist, doch auch das ist ja ein natürlicher menschlicher Antrieb – seine Lust auszuleben, wenn es angebracht ist, er liebt wilden Sex, aber er wird niemals übergriffig. Und auch das Mitgefühl und Verständnis, dass er für andere Menschen aufbringt und weshalb er als einfühlsam wahrgenommen wird, begründet sich darin, dass er seine eigenen Abgründe kennt und daher auch den anderen mit allen seinen Abgründen annehmen kann. Ein Meister des Lebens vermag mit der Seele seiner Nächsten Fühlung zu halten. Ich habe gerade diesen Aspekt ausführlich in meinem Essay Die wahrhaft menschliche Einstellung [Link] behandelt. Unbewusste Menschen sind in der Regel einseitig ausgeprägt, sie sind entweder angepasst und leisten gar keine Gegenwehr, richten dabei aber meist ihre Aggressionen gegen sich selbst, oder sie sind wiederum ausgesprochen boshaft und aggressiv, vergiften damit aber letztlich ihre eigene Seele oder aber – und das ist eben auch eine einseitige Ausprägung – sie versagen sich jegliche Lust, sind spartanisch, kasteien sich und beschränken damit einen wesentlichen Aspekt ihrer eigentlichen Natur.
Ein Meister des Lebens vermag auf der ganzen Klaviatur der menschlichen Natur zu spielen und auf alle Eigenschaften, die das eigentlich Menschliche ausmachen, zurückzugreifen, er zeichnet sich wohl überwiegend durch Sanftmut und maßvolle Zurückhaltung aus, zeigt Einfühlungsvermögen und Anteilnahme – doch man sollte sich dadurch nicht täuschen lassen, denn wehe dem, der auf die Idee kommt, ihm übel mitspielen zu wollen und ein Meister die Notwendigkeit sieht, einmal ordentlich auf den Tisch zu hauen!

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