Und da erschien ihm ein Engel ...

Von irrenden und wirrenden Philosophen

Doch mit der Selbsterkenntnis verhält es sich ja so, dass die meisten Menschen es nicht für nötig erachten, überhaupt so etwas zu versuchen, wie in einen geistigen Spiegel zu blicken. Und unter den wenigen Ambitionierten, die dies dennoch wagen, gibt es dann diejenigen, die zwar in einen solchen Spiegel blicken, doch darin eben nichts zu erkennen vermögen. Und unter diesen gibt es wiederum all jene selbstgerechten Esoteriker, vermeintlichen Erleuchtete, unerträglichen Besserwisser oder gar arrivierten Philosophen, die sich in schöngeistigen Betrachtungen über den Beziehungsreichtum jenes Sinnspruchs am Apollontempel von Delphi – ‚Gnothi seauton – Erkenne dich selbst’ – ergehen und dabei doch die groben Verwerfungen ihrer eigenen geistigen Unvollkommenheit gänzlich übersehen, weil es eben so überaus schmerzlich ist, zu erkennen, dass man selbst vom Idealbild eines wahren Weisen so weit abweicht. So ist es zumindest zu erklären, dass man sich in so vielen philosophischen oder spirituellen Runden und Debattierkreisen so viele Weise, Aussteiger, Gurus, kirchliche Würdenträger, buddhistische Mönche, angebliche Heiler, Erleuchtete oder Jung-Kenner anhören muss, die doch eigentlich lebenskluge Menschen sein wollen, weil sie sich ja so tief in Selbsterkenntnis geübt haben und die sich dennoch erblöden, all diese selbstgerechten, haarsträubenden, ja geradezu peinlichen Phrasen zu dreschen.

Für mich warf dieser zunächst einfach nur amüsant klingende Bericht jenes Journalisten jedenfalls bei näherer Betrachtung ein Licht darauf, welche Bedeutung eben jener Selbsterkenntnis zukommt und warum sie nicht nur in so vielen philosophischen und spirituellen Schulen so dringend gefordert wird. Wenn wir über keine Selbsterkenntnis verfügen, bringen wir dann nicht andere Menschen ständig in die Verlegenheit, uns anlügen zu müssen? Ist es nicht so, dass auch wir selbst etwas damit zu tun haben, wenn wir angelogen werden?

Mir geht es jedenfalls häufig so, dass ich mich mit Menschen auseinandersetzen muss, die über recht wenig Selbsterkenntnis verfügen und ich mich dann in der Misere befinde, dass ich weiß, wenn ich ihnen die Wahrheit sagen würde, die sie eigentlich kennen müssten, sie mir dies praktisch verübeln würden, weil sie eben die Wahrheit nicht kennen, die sie doch kennen sollten, weil sie sie eben kennen könnten. Also spreche ich oft nicht aus, was ich denke – ich belüge sie.
Und ich habe dabei überhaupt kein schlechtes Gewissen. Meine Einstellung ist, dass ich mich mit Menschen auf dem Stand der Persönlichkeitsstufe auseinandersetze, auf der sie sich geistig befinden und wer nicht damit umgehen kann, wenn ich ihm meine ehrliche und aufrichtige Meinung sage, den behellige ich auch nicht damit. Manchmal ist es besser, Menschen nicht mit Dingen zu belasten, die sie geistig gar nicht verarbeiten können.
Möglicherweise mag das so als Statement dahingesagt ziemlich überheblich klingen und ich bin mir bewusst, dass dies auch durchaus eine heikle Einstellung ist. Doch um wirklich zu verstehen, was ich damit zum Ausdruck bringen möchte, müssten Sie mich auch etwas näher kennen, denn ich meine das ganz und gar nicht in einem solchen herablassenden Sinn, wie es manche vielleicht gerne verstehen möchten. Möglicherweise wird ja meine Auffassung gegen Ende dieses Essays etwas verständlicher werden.

Von Menschen, die die Wahrheit gar nicht hören möchten

In jedem Falle ist dies der Punkt, an dem ich meine Überlegungen auf das Entscheidende hin zuspitzen möchte und an dem sich die Frage stellt, bei wem denn die eigentliche Verantwortung dafür liegt, dass eine Lüge ausgesprochen wird? Wenn ich zu wenig Selbsterkenntnis besitze, wenn ich die Wahrheit über mich nicht kenne, weil ich sie gar nicht wissen will und wenn ich immer dann, wenn andere mir die Wahrheit beziehungsweise ihre ehrliche Meinung sagen, damit reagiere, dass ich mich gekränkt, verletzt oder gar aggressiv zeige, wie es ja so viele Menschen tun, mich also ausgesprochen vorwurfsvoll gegenüber diesen Menschen gebärde, wenn ich eben immer eingeschnappt bin und damit eine unangenehme Peinlichkeit der Situation heraufbeschwöre oder gar durch die Zurschaustellung einer persönlichen Kränkung diese anderen praktisch dafür abstrafe, dass sie so offen zu mir waren, kann ich dann erwarten, dass mir irgendwann noch irgendjemand die Wahrheit sagt? Bin ich also in einem gewissen Maße nicht selbst verantwortlich dafür, wenn ich belogen werde?

Meine Auffassung ist, dass dies tatsächlich der Fall ist, dass ich tatsächlich zu einem großen Teil selbst dafür verantwortlich bin, ob andere Menschen mir gegenüber aufrichtig sind oder nicht. Wenn ich auf Kritik oder Hinweise ablehnend, genervt oder beleidigt reagiere, nichts hören will, den anderen gleich mit einem Schwall an Begründungen für meine Versäumnisse oder Eigenheiten überschütte – die ja letztlich auch immer nur Ausreden sind –, dann erzeuge ich damit eine so unangenehme Atmosphäre, dass ich nicht erwarten kann, auch beim nächsten Mal noch eine offene Meinung gesagt zu bekommen. Und wenn ich als Vorgesetzter meinen Untergebenen, wenn sie einen Fehler begehen, immer gleich ausschweifende, besserwisserische Belehrungen erteile, ihnen Vorwürfe mache, sie harsch rüge, runtermache oder sie eben, wie man gemeinhin sagt, ‚zusammenscheiße’, werden die meisten das nächste Mal versuchen, ihre Fehler zu vertuschen und mich, wenn es irgend geht, belügen – und das gleiche gilt, wenn ich als Vater oder Mutter eben so mit meinen Kindern verfahre oder mich in meinem Bekanntenkreis in einer solchen Weise aufführe.

Im Grunde sind es unsere eigenen Defizite im Umgang uns selbst und dann auch im Umgang mit anderen Menschen, die irgendwann dazu führen, dass diese uns belügen und somit tragen wir selbst eine Mitverantwortung dafür, wenn wir belogen werden. Und dies gilt in Partnerschaften und Familien genauso wie in der Arbeitswelt und wie überhaupt in unserem sozialen Umfeld. Wer sich darüber ärgert, dass er oft belogen wird, sollte sich möglicherweise selbst einmal etwas fragen …
Und ob man aushält, was einem andere Menschen über einen selbst anvertrauen, ist eine Frage der persönlichen Reife beziehungsweise wie weit entwickelt die eigene Persönlichkeit ist. Im Grunde kann man sagen, dass Menschen, die die Wahrheit über sich nicht hören können oder wollen, kindhafte, seelisch unreife Menschen sind.

Projektion – ein altes Übel

In diesen Zusammenhang spielt allerdings noch ein weiteres Phänomen hinein, das ganz grundsätzlich für den zwischenmenschlichen Umgang von Bedeutung ist und auf das ich bei dieser Gelegenheit noch etwas näher eingehen möchte. Die menschliche Psyche verfügt nämlich über einen besonderen Mechanismus, der als Projektion bekannt ist, was meint, dass Menschen dazu neigen, die Schiefstände in ihrer eigenen Persönlichkeit nicht wahrhaben zu wollen, sondern diese zu verdrängen. Nach den Erkenntnissen der modernen Psychologie führt das aber dazu, dass solcherart verdrängte, unerquickliche Seiten der eigenen Persönlichkeit nach außen gewandt, das heißt auf die Umwelt projiziert werden. Es ist eine ureigene Funktionalität der menschlichen Psyche, dass sie nicht bearbeitete innere Probleme im Außen abhandelt. Und so gibt es eben Menschen, die im Wesen der anderen ständig Unarten oder Missstände sehen, die eigentlich ihre eigenen inneren Schiefstände sind, mit denen sie sich nur nicht auseinandersetzen wollen.
Und so geschieht es nicht selten, dass es Menschen vorgeblich gut mit uns meinen und uns einmal ‚die Wahrheit sagen’ oder ‚reinen Wein einschenken’ wollen und dabei eigentlich nur ihre eigenen Probleme, Irrtümer oder völlig verqueren Anschauungen an uns heranklatschen, sie eben auf uns projizieren und im Grunde nur ihr eigenes Unbehagen mit sich selbst an uns auslassen.
Und wenn uns solche Menschen irgendwelche ‚Wahrheiten’ über uns anvertrauen, sollten wir diese tatsächlich nicht allzu ernst nehmen, denn meist trägt das eher weniger zu einer wirklichen Erkenntnis unserer selbst bei. Allerdings gilt hier der Grundsatz, dass sich Projektionen nur auf Menschen legen, die doch zumindest ansatzweise einen Anknüpfungspunkt zum Aufhängen einer solchen Projektion bieten, so dass selbst in der wirren Vorstellungswelt solcher Leute möglicherweise ein wahrer Kern liegen könnte und wir so interessanterweise auch in der wirren Konfusion einer solchen, unsäglichen Projektion noch nach dem Goldkörnchen an Wahrheit suchen können, in diesem Falle allerdings ohne uns darüber allzu sehr zu beunruhigen. Es ist hier – wie ja so oft im Leben – die große Kunst, unterscheiden zu können, ob es sich dabei tatsächlich um gute Ratschläge oder um eben solche unsägliche Projektionen handelt. Und es ist durchaus eine besondere Kunst, solche vermeintlichen Wahrheiten, die uns gesagt werden und die im Grunde nicht wirklich etwas mit uns zu tun haben, sondern eben nur die Projektionen anderer sind, von den Beobachtungen und Ratschlägen kluger Menschen, die uns im Guten etwas über unser Wesen offenbaren möchten, zu unterscheiden. Wir sollten uns jedenfallsdringend darum bemühen, eben diese Kunst zu erlernen. Denn wenn uns wohlmeinende, reflektierte Menschen etwas über uns selbst anvertrauen, sollten wir alles dafür tun, uns diese wertvollen Ratgeber zu erhalten und uns nicht so aufführen, dass wir sie über unser abweisendes Verhalten dazu nötigen, entweder die Verbindung zu uns abzubrechen oder uns fürderhin nur noch zu belügen, um uns nicht mit Dingen zu belasten, die wir nicht verstehen. Meine ganz persönliche Ambition ist es jedenfalls, irgendwann über so viel Selbsterkenntnis zu verfügen, dass wenn mir ein wohlwollender Mensch etwas über mich selbst sagen möchte, dieses nichts sein kann, das ich nicht schon von mir wüsste und das für mich irgendwie neu oder überraschend sein könnte, so dass ich eher gespannt sein darf, ob dieser mir tatsächlich etwas zu sagen vermag, was ich nicht schon über mich wüsste. Jedenfalls sollte man so etwas für sich in Anspruch nehmen können, wenn man wie ich die 50 schon deutlich überschritten hat; die Phase des jungen Erwachsenseins ist ja die Phase, in der man üblicherweise ständig Neues über sich selbst dazulernt und man gegenüber solchen Hinweisen daher grundsätzlich aufgeschlossen sein sollte. Ich selbst habe mittlerweile jedenfalls die Haltung, dass ich einfach gespannt darauf warte, jemandem zu begegnen, der mir doch wieder einmal etwas interessantes Neues über mich offenbaren kann.

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