Und da erschien ihm ein Engel ...

Vom Lügen

Lügen – ein altes Kulturgut der Menschheit

In jüngster Zeit ist des Öfteren eine bestimmte Feststellung zu hören, die besagt, Psychologen hätten ermittelt, dass ein Mensch durchschnittlich 200 Mal am Tage lügt und die mich jedes Mal, wenn ich sie wieder einmal vernehme, zum Nachdenken bringt. Auf eine derart hohe Zahl an Lügen kommt man sicherlich nur dann, wenn man sehr strenge Maßstäbe anlegt und auch all die Beschönigungen und Beschwichtigungen, die wir im gesellschaftlichen Miteinander ja ständig gebrauchen, ganz gestreng als Lügen einstuft. Da wurden sicherlich auch Äußerungen eingerechnet wie etwa, wenn wir im Restaurant mit dem Essen nicht wirklich zufrieden waren und von der Bedienung gefragt werden, ob es denn geschmeckt hat, wir aus Höflichkeit oder sonstigen Gründen trotzdem mit ‚Ja, war gut’ antworten.
Und obgleich mir eine Zahl von 200 Lügen pro Tag am Ende vielleicht etwas hoch gegriffen scheint – zumal in der Regel auch nichts dazu gesagt wird, wie sie denn ermittelt wurde –, scheint sie mir allerdings von einiger Bedeutung, macht sie doch irgendwo die Tatsache bewusst, dass nicht nur solche Beschönigungen und Beschwichtigungen, sondern überhaupt zahlreiche kleinere, zum Teil aber auch ganz handfeste Lügen fester Bestandteil unseres Alltags sind, ja, es doch eigentlich Teil unserer Kultur ist, sich regelmäßig solcher Unwahrheiten zu bedienen.

Architektur in Karlsruhe

Die konkrete Idee zu diesem Essay wurde schließlich geboren während einer nächtlichen Gesprächsrunde der Sendung Nachtcafé des SWR, die sich mit dem Thema ‚Lüge’ befasste und die – damals noch von Wieland Backes – beinahe unvermeidlich mit besagter Feststellung eingeleitet wurde. In dieser Runde war ein Journalist zu Gast, der für einen Artikel in seiner Zeitung ein Experiment mit sich selbst durchgeführt hatte. Er hatte sich vorgenommen, drei Monate lang nicht zu lügen und immer die Wahrheit zu sagen. Er hatte dies nach eigenem Bekunden auch tatsächlich die ganze Zeit durchgehalten, jedoch hatte dies in seinem persönlichen Umfeld auch zu nicht wenigen Krisen geführt und er berichtete, dass einige Kollegen seiner Redaktion ihm die eine oder andere ‚Wahrheit’, die er im Rahmen seines Experiments ausgesprochen hatte, bis heute nicht nachgesehen hätten. Auch seine Ehe sei dabei in eine leichte Krise geraten, die diese aber mittlerweile überstanden habe.
So berichtete er unter anderem von einer Episode, die sich mit seiner Frau zugetragen hatte. Sie waren gemeinsam shoppen und seine Frau hatte beschlossen, sich einen Bikini zu kaufen. Beim ersten Modell, das seine Frau anprobierte, fragte sie ihn, wie ihr denn dieser Bikini stünde? Er meinte dazu erläuternd, seine Frau habe an sich schon eine gute Figur und sei durchaus schlank und er fände sie auf jeden Fall sexy, jedoch verfüge gerade ihr Po nicht über eine Formgebung klassischen Ideals. Also riet er ihr ganz ehrlich von diesem Bikini ab. Natürlich fragte ihn seine Frau daraufhin, warum er ihr denn gerade von diesem Modell abriet – und da fühlte er die ganze Last der Gewissensprobe, die er sich mit seinem Vorhaben aufgebürdet hatte. Er hielt sich allerdings an seinen Vorsatz und sagte ihr seine ehrliche Meinung, nämlich dass ihm ihr Po sehr gefiele, er aber gerade für diesen speziellen Bikini doch etwas zu breit wäre.
Die folgenden Nächte verbrachte er auf der Couch.

So amüsant diese Episode ja ist, brachte mich der interessante Erfahrungsbericht dieses Journalisten in den folgenden Tagen doch sehr zum Nachdenken, denn aus den Erkenntnissen seines Experiments wurden mir so einige interessante Aspekte am Phänomen ‚Lügen’ generell deutlich.
Zum einen ist da natürlich die Frage nach der Wahrheit überhaupt, denn Lügen bedeutet ja irgendwo, die Unwahrheit zu sagen. Doch was sind denn Wahrheit und Unwahrheit? Kluge Menschen sagen, dass wir die reine, die wirkliche Wahrheit ohnehin niemals wissen können. Demnach könnten wir im Grunde gar nicht sagen, was überhaupt die Wahrheit und was die Unwahrheit ist. Immerhin können wir davon ausgehen, dass wir heutzutage in Bezug auf Phänomene, die wir mit Hilfe der Naturwissenschaften erklären können, eine weitgehende Gewissheit über die Wahrheit haben – und ich sage bewusst: keine absolute, sondern eine weitgehende Gewissheit! Denn in der Wissenschaft gibt es ja eine ganze Menge Wahrheiten aus jüngerer Vergangenheit, die die Wissenschaft selbst aufgrund neuerer Erkenntnisse revidieren musste, wie etwa die anfänglichen Theorien zum Atommodell, die Annahme über die Festschreibung der genetischen Anlagen, das Verständnis von der komplexen Wirkung des Cholesterin oder das Kausalitätsprinzip in Bezug auf den subatomaren Bereich. Da sind ja etliche wissenschaftliche Erkenntnisse, die zu ihrer Zeit als Wahrheiten galten, heute eben keine Wahrheiten mehr. Und im zwischenmenschlichen Bereich ist die Wahrheit ja ohnehin jenseits wissenschaftlicher Überprüfbarkeit und somit rein subjektiv.
Das heißt, eigentlich müsste man die Definition der Versuchsanordnung dieses Journalisten etwas präzisieren. Er hatte sich, wie er sagte, vorgenommen, drei Monate lang nicht zu lügen, also während dieser Zeit stets die Wahrheit zu sagen, doch streng genommen müsste es lauten, dass er sich vorgenommen hatte, auszusprechen, was er subjektiv für die Wahrheit hielt – oder anders gesagt: immer auszusprechen, was er wirklich dachte beziehungsweise nicht seine wirkliche Meinung zu verheimlichen. Und das ist dann ein etwas anderes Verständnis des Themas Lüge und Wahrheit und eben das war es, das mich letztlich zu meinen Überlegungen geführt hatte.

Unterschiedliche Kategorien von Lügen

Mir wurde demnach klar, dass die Definition der Versuchsanordnung des Journalisten etwas unpräzise war und darüber wurde mir wiederum bewusst, dass auch ich mein bisheriges Verständnis von ‚Lüge’ doch etwas präzisieren musste. Denn unter ‚Lügen’ versteht man in unserem Kulturkreis ja grundsätzlich auch, nicht auszusprechen, was man selbst eigentlich für die Wahrheit hält, sondern etwas anderes zu behaupten – beziehungsweise eben nicht auszusprechen, was man wirklich denkt. Und aus dieser Betrachtungsweise wurde mir klar, dass es eine ganz bestimmte Kategorie von Lügen war, die mich aufgrund des Experiments des Journalisten so beschäftigt hatte. Denn es gibt ja, abhängig von den Umständen, unter denen eine Lüge ausgesprochen wird oder der Motivation des Lügners verschiedene Kategorien von Lügen. So gibt es auch diejenigen Lügen, die Menschen erzählen, die einen Fehler gemacht haben und dann versuchen, diesen zu ihrem eigenen Vorteil zu vertuschen – und sei es einfach, dass sie nur keine Vorwürfe zu hören bekommen möchten – und dann gibt es da ja auch noch diejenigen Menschen, die einfach notorische Lügner sind und die ihr Leben auf der Lüge als einem Grundprinzip aufbauen. Aber das sind Fälle, die unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachtet werden müssen, als es mir aufgrund jener Sendung des Nachtcafé in den Sinn kam. Ich befasse mich hier aber mit der Lüge unter dem besonderen Aspekt der Aufrichtigkeit im zwischenmenschlichen Bereich.

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