Es war eine Art Regieanweisung. Wir folgten ihr umgehend, indem wir uns in einer vollkommen synchronen Bewegung erhoben. Unsere gegenseitige Durchdringung blieb dabei vollständig gewahrt. Auch, als wir ein paar Meter am Straßenrand entlang gingen, bewegten wir uns in einer fast perfekten Übereinstimmung, so als wären wir eine einzige Person. Es gab nur eine leichte Ungenauigkeit in unserer Synchronität, die jedoch stets im Rahmen der Abweichung dieser wenigen Zentimeter blieb, die schon zu Beginn der Szene bestanden hatte. Solchermaßen in einer gewissen Unschärfe symbiotisch verschmolzen fluktuierten wir zu einem Fachwerkhaus, an dessen Außenwand ein Bücherregal eingepasst war und wir begannen, darin nach dem Buch ‚Allende’ zu suchen. Kaum hatten wird dieses ausgemacht, da verschwand es vor unseren Augen. Es verwandelte sich zusammen mit dem gesamten Bücherregal in einen Teil der Fachwerkwand. Was eben noch ein Buch gewesen war, steckte nun als Mörtelstück fest in der Wand.
Als ich gerade noch verwundert auf das Gemäuer blickte, wartete mein Traum schon mit der nächsten Überraschung auf. Unsere Aufmerksamkeit wurde auf zwei ältere Frauen gelenkt, die auf der anderen Straßenseite standen und uns zu beobachten schienen. Sie leuchteten sanft in einem weißlichen Grau und beider Gestalten erschienen vollständig transparent. Sie waren die einzigen Inhalte meines Traumes, die nicht in den grünlichen Schimmer dieser nächtlichen Umgebung getaucht waren, sondern von innen heraus in diesem sanften weißen Licht strahlten. So hoben sie sich deutlich von der übrigen Szenerie ab, was zunächst den Eindruck erweckte, dass sie nicht eigentlich in meine Traumszenerie gehörten, sondern sich eher wie Fremdkörper ausnahmen. Doch es verhielt sich wohl so, dass die Kameraführung meines Traum-Sets deutlich machen wollte, dass es sich hier um Gespenster handelte und sie vielleicht etwas allzu augenscheinlich als solche heraushob.
Der optische Effekt, den mein Traum damit erzielte, war jedenfalls beeindruckend! Wie alles in meinem Traumszenario, erschienen auch die beiden Frauen ausgesprochen realistisch und unglaublich detailliert. Besser konnte der derzeitige Stand der Hollywood-Tricktechnik Geister auch nicht in Szene setzen. Für diese nahezu perfekte Darstellung hätte sich mein Traum-Bewusstsein auf jeden Fall eine Oscar-Nominierung verdient gehabt.
Zu einem späteren Zeitpunkt wurde mir bewusst, dass die beiden älteren Frauen irgendwie etwas an die Tanten von Cary Grant aus Frank Capras Meisterwerk des schwarzen Humors ‚Arsen und Spitzenhäubchen’ erinnerten. Wer den Film kennt und um das Geheimnis der beiden liebenswürdigen und so unschuldig wirkenden alten Damen weiß, wird möglicherweise noch feststellen, wie beziehungsreich der Einfall meiner Traum-Regie an dieser Stelle doch war.

Eine der beiden Frauen blieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite zurück. Sie wollte sich offenbar im Hintergrund halten; irgendwie wusste ich, dass sie eine Art Vermittlerin war. Die andere Frau kam jedoch über die Straße zu uns herüber. Als sie genau vor mir stand, staunte ich noch mehr, wie unglaublich detailliert mein Traum sie darzustellen vermochte. Sie war leicht korpulent, befand sich offenbar im Rentenalter, trug ein langes und hochgeschlossenes, altmodisches Kleid das mit sorgfältig geplätteten Rüschen besetzt war. Ihre Erscheinung wirkte insgesamt recht altbacken. Ich betrachtete sie eingehend.
Kostüm und Maske meines Traumsets war es geradezu meisterlich gelungen, eine Person in Szene zu setzen, die bis in die kleinsten Details den Eindruck von nahezu völliger Belanglosigkeit vermittelte. Die Maskenbildner hatten dazu eines dieser Dutzendgesichter ohne jeglichen individuellen Ausdruck gestaltet, denen man im Alltag in Massen begegnen konnte und das wohl gerade deshalb direkt dem wahren Leben entnommen schien.
Die Erscheinungen des Alters hatten in ihm eine früher möglicherweise einmal vorhandene Anmut – und mochte es auch nur die der Jugend gewesen sein – oder gar den Ausdruck einer eigenen Persönlichkeit nahezu völlig unkenntlich gemacht. Ein solcher Prozess trat beileibe nicht bei allen älteren Menschen ein, sondern war meist die unerbittliche Folge eines in oberflächlicher Dumpfheit dahingelebten Lebens, welchem der Betroffene versäumt hatte, eine wirkliche Bedeutung zu verleihen. Es war ein Zeugnis, welches das Leben selbst den Menschen ausstellte und seine Bewertung, allen anderen zur Mahnung, gnadenlos in ihre Gesichter schrieb. Doch eine solche Entwicklung war beileibe kein Schicksal, dem man nicht entrinnen konnte. Man konnte auch älteren Menschen begegnen, die es vermocht hatten, ihr Leben sinnvoll zu gestalten und denen in dieser Beziehung sichtbar ein besseres Zeugnis ausgestellt worden war. Wie diese Bewertung ausfiel, hatte jeder selbst zu verantworten. Dieses ausdrucksleere Gesicht passte jedenfalls nahtlos in die Reihe jener, wie man sie auf Kaffeefahrten und Volksfesten in Massen zu sehen bekommt und nach dem Blick in nur wenige Varianten schon nicht mehr zu unterscheiden vermag. Ihre Haare, die als eine Art Wrack einer Dauerwelle noch in einigen Überresten die Form einstmals sorgfältig ondulierter Locken erahnen ließen, doch nun nur mehr seicht verebbten und sich dabei nur noch matt und siech nach dem Prinzip ‚praktisch aber einfallslos’ dahinwellten, machten den Eindruck weitgehender Belanglosigkeit geradezu perfekt.
Seltsamerweise war ich mir trotzdem sicher, dass ich gerade diese Frau noch nie zuvor gesehen hatte. Doch es schien, als würde sie uns kennen, denn sie tat entschlossen einen Schritt auf uns zu.

Da geschah etwas völlig überraschendes.

Die Frau, mit der ich bislang so harmonisch durchdrungen war, schnellte plötzlich mit ihrem Oberkörper nach vorne und führte mit ihrem Spaten eine gekonnte Stichbewegung hin zur Gurgel der älteren Frau aus. Da diese Bewegung unvermittelt und überraschend gekommen war, befand ich mich noch immer in aufrechter Haltung und konnte nun flüchtig den Oberkörper der Frau wahrnehmen die sich soeben nach vorne und damit aus mir heraus gebeugt hatte. Sie hatte eine athletische und doch sehr frauliche Statur und ich registrierte, dass ihre Kleidung recht exotisch anmutete. Ich nahm auch gerade noch so wahr, dass die spitz zulaufende Schaufel jetzt gerade ausgeklappt war, so dass der Spaten nun eine recht wirkungsvolle Stichwaffe abgab. Allerdings nahm ich diese Eindrücke nur noch am Rande wahr, denn alles wurde überlagert von einer starken Emotion, die von der Frau mit dem Spaten ausging und an der ich wohl aufgrund dieser geheimnisvollen Verbindung mit ihr heftigen Anteil hatte. Es war ein urgewaltiger Aufschrei der Gefühle, der sich unmittelbar auf mich übertrug und alle anderen Wahrnehmungen überlagerte. Ich spürte eine archaische, bedingungslose Entschlossenheit. Aber ich glaubte, darin gleichzeitig eine tiefe Verzweiflung wahrzunehmen. Mir kam sofort der Gedanke, dass diese Gefühle von einer Art und Stärke waren, die man nur in einer extremen Ausnahmesituation aufzubringen vermochte. Und ich dachte dabei unwillkürlich an Mord! Das Eigenartige daran war, dass diese Emotionen aus der Frau so plötzlich und komprimiert herausgebrochen waren wie das mit beherrschtem Atem gesetzte „Kyh-Ah!“ eines geübten Karatekämpfers. Nur dass dieser Aufschrei eben nicht von einer Stimme herrührte, sondern als eine markerschütternde Emotion durch mein Bewusstsein peitschte. Der Ausfall war in seinem Ansatz so energisch, dass ich intuitiv die Gewissheit hatte, die Frau mit dem Spaten würde der älteren Geist-Frau sogleich den Kopf abschlagen. Wäre ihr Gesicht nicht ohnehin schon so totenbleich und transparent erschienen, hätte ich sicherlich sehen können, wie sie vor Schreck erblasste. In mir verfestigte sich unmittelbar die Gewissheit, dass dies mit der Vergangenheit der Frau mit dem Spaten zu tun hatte und mir schossen augenblicklich zahllose Fragen durch den Kopf.
Hat Sie einst so gemordet? War sie durch ein Schicksal dazu verdammt, an ihre Tat gebunden zu bleiben? Hat sie einst diese ältere Frau umgebracht und wurde nun von deren Geist heimgesucht, der sie immer wieder an ihre Tat mahnte? War die von mir bewunderte schöne Kämpferin eine Mörderin? Erklärte sich daraus auch ihre Sisyphusarbeit?
Welch grauenvolle Wendung hatte die Szenerie genommen! Welch grausames Schicksal hatte sich mir hier womöglich offenbart! Ich war völlig irritiert. Als endgültig letzte Überraschung fror die Szene ganz abrupt ein und der Traum brach ab. Vor meinen Augen blieb gleichsam der Film hängen, stoppte, riss und ich sah das gerade hängen gebliebene Bild in der Hitze der Projektorlampe zerschmelzen.

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