Und jemand, der so etwas vorhatte, musste eben sehr genau wissen, wie ich dachte und welche Auffassung ich von den Gesetzmäßigkeiten der Welt hatte und er musste eine Vorstellung davon haben, wie man diese mit Einfallsreichtum aushebeln konnte. Wenn dahinter tatsächlich ein geplantes Vorgehen stand, dann hätte man es kaum raffinierter anstellen können. Jemand musste, listenreich wie einst Odysseus, gezielt diesen Begriff ausgewählt haben, den ich arglos vereinnahmen konnte, da ich ihn ja in einen völlig anderen Zusammenhang brachte. Ich konnte somit den Begriff zunächst einmal akzeptieren, da er für mich mit Spiritualität absolut nichts zu tun hatte und gab ihm arglos einen bedeutungsbehafteten Platz in meiner Vorstellungswelt. Aber als ich dann völlig unvoreingenommen nach diesem Begriff recherchierte, platze innerhalb dieser meiner schönen und geordneten Vorstellungen die Bombe und mein naturwissenschaftlich-aufgeklärtes Weltbild flog mir um die Ohren! Das war einfach genial! Ich war wie vom Donner gerührt. Ich wusste nicht, was hier am Werke war, aber es war intelligent!
Damit war für mich endgültig klar, was ich nun zu tun hatte. Ich hatte vollstes Vertrauen in Frau Gladczek, ich fühlte mich magisch angezogen von meiner faszinierenden Tempeltänzerin, ich war schon immer aufgeschlossen und experimentierfreudig gewesen und in mir lebte immer noch etwas vom Wagemut eines Kriegers. Der Name ‚Jaganath’ bezeichnete wohl streng genommen eine bedeutende hinduistische Gottheit, aber womit ich es hier bislang zu tun hatte, war doch ganz offensichtlich nicht mehr als einfach eine schöne Frau. Die mochte wohl eine Tempeltänzerin oder Kriegerin sein aber sie war gewiss keine furchterregende Gottheit, dazu war sie mir zu menschlich erschienen und dazu hatte ich eine zu große Nähe zu ihr empfunden. Der Name ‚Jaganath’ war wohl aus rein taktischen Gründen ausgewählt worden, um mich mit der Botschaft zu überlisten. Ich beurteilte die Lage also dahingehend, dass ich diesen Namen benutzen konnte, ohne das Hereinbrechen des vernichtenden Zorns hinduistischer Obergötter zu riskieren. Es war der Zeitpunkt gekommen, nun ernsthaft das zu versuchen, was ich am Vortag bei Frau Gladczek noch hochmütig belächelt hatte.

Ich schloss also die Augen, besann mich darauf, dass ich den Namen dreimal auszusprechen hatte, konzentrierte mich und begann, innerlich deutlich vor mich hinzusprechen:
   „Jaganath!“
Ich machte eine kurze Pause.
   „Jaga…“

Noch ehe ich das Wort zu Ende sprechen konnte, machte ich die unglaublichste Erfahrung meines Lebens. Eine überwältigende Flut innigster Zuneigung ergoss sich über mich, die irgendwie wärmend von meiner rechten Schulter ausging.
Trotz der unglaublichen Intensität dieses Erlebnisses bemühte ich mich, so genau wie möglich wahrzunehmen, was mir da geschah. Und was sich da ereignete, war gerade so, als stünde hinter mir eine Frau und legte mir zärtlich und vertraut ihren Kopf auf die Schulter, so dass ich ihr Kinn fest auf meiner Schulter und ihre Wange warm und sanft an meinem Ohr spürte. Von dieser Stelle breitete sich wärmend und wohltuend eine lichte Strahlung wie eine Welle über meinen Körper aus und drang kribbelnd bis in alle Fingerspitzen vor. Es war ein Empfinden, wie es sich wohl einstellt, wenn man mit einem geliebten Menschen beisammen sitzt und gemeinsam die gegenseitige Zuneigung fast schon körperlich zu spüren vermag, ja in einigen besonders innigen Momenten nicht nur die eigene Liebe fühlt, sondern auch die Zuneigung des anderen als eigenständiges Gefühl innerhalb seines eigenen Körpers zu spüren glaubt, so als ob eine Übertragung der Liebe des anderen in einen selbst stattgefunden hätte und aus dieser Verbindung zweier einzelner Individuen eine ganz neue Qualität entsteht, die wiederum alles Sein in eine andere Sphäre zu entrücken vermag.
Und eine solche Empfindung spürte ich nun von meiner rechten Schulter ausgehen. Ich nahm ein Wesen wahr, das ich als weiblich empfand, das sein Kinn auf meine Schulter gelegt hatte und mich mit wärmender Zuneigung überschüttete. Die Berührung hatte eine solche Intensität, dass ich sie auch ganz physisch spüren konnte. Ein wohltuendes, lichtes Kribbeln verblieb auf meiner Haut an den Stellen, die von der Welle überflutet worden waren und verdichtete sich zu einer angenehm vibrierenden Gänsehaut. Das Gefühl, das sich meiner bemächtigte, wurde ehe ich mich versah so intensiv, dass mir unvermittelt gar mein Kreislauf Schwierigkeiten machte. Ich war von diesem Ereignis so überrascht und überwältigt, dass ich erschrocken meine Konzentration zurücknahm und den Versuch abbrach.
Ich konnte nicht begreifen, was da gerade geschehen war. Es hielt mich nicht an meinem Platz, ich musste aufstehen und ging eine ganze Weile in meinem Zimmer auf und ab, um mich wieder einzufangen.

Alle möglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf. War das eben meine Kriegerin gewesen? Konnte ich sie tatsächlich unter dem Namen Jaganath erreichen? Funktionierte der Kontakt offensichtlich über dieses Pseudonym? Bei dem Versuch am Vortag, meine Mutter zu erreichen, hatte ich so gut wie nichts wahrgenommen, es war mir lächerlich, ja peinlich vorgekommen. Nun aber befand sich mein Weltbild in freiem Fall. Diese unglaublichen Emotionen waren definitiv keine Einbildung oder Hirngespinste, dazu kannte ich als trainierter Soldat meine körperliche und mentale Verfassung zu gut. Diese Gefühle waren eindeutig von etwas angestoßen worden, das sich außerhalb von mir befinden musste.
Nach einiger Zeit hatte ich mich wieder etwas gefasst, doch an Arbeit war nun nicht mehr zu denken. Die Begierde, dieses unvergleichliche Erlebnis noch einmal zu erfahren, war einfach übermächtig. Ich sehnte mich nach diesem beglückenden Gefühlscocktail, wie ich mich noch nie nach etwas gesehnt hatte. Ein derartiges Verlangen musste wohl ein Drogensüchtiger fühlen, der sich nach einem weiteren Schuss verzehrte.

Ich setze mich also wieder an meinen Platz, stütze die Ellenbogen auf den Tisch, faltete zur Konzentration die Hände vor meinem Kopf zusammen und stütze meine Stirn auf die ausgestreckten Daumen – so konnte ich mich am besten konzentrieren.
   „Jaga…“
Sie kam über mich wie ein gerade freigelassener Katarakt aus Sonnenlicht. Ich spürte eindeutig die Präsenz eines Wesens. Der Schwall an Emotion war diesmal noch stärker, ich konnte nun eindeutig eine liebevolle, warme weibliche Zuneigung spüren, die sich so heftig über mich ergoss, dass mir nach wenigen Sekunden Ströme von Tränen aus den Augen schossen. Was da binnen eines Wimpernschlags an Gefühlen, Eindrücken und Regungen über mich hereinbrach, traf mich mit einer Wucht als sei gerade eine riesige Staumauer zerborsten, deren Inhalt nun auf mich herniederging. Es war einfach nicht länger auszuhalten und ich musste meine Konzentration wiederum unvermittelt aufgeben.
Ich bekam noch ein hastiges
   „Danke, Jaganath! Bitte verzeih!“
hin und brach auch den zweiten Versuch vorzeitig ab.
Ein Sturm sich jagender Gedankenfetzen brach in mir los. Von wegen ‚Dreimal beim vollen Namen rufen!’ Ich brauchte nur anzusetzen, sie zu rufen, da war sie schon bei mir. Bestätigte dies meine Erkenntnis aus dem Traumbild, Jaganath sei ständig um mich herum und mir immer nahe? War sie mir stets so nah, dass ich sie gar nicht erst herbeirufen musste? Die Gefühle, die ich ja geradezu überdeutlich wahrnahm und die solche massiven körperlichen Reaktionen hervorriefen, waren derart intensiv, dass der Begriff ‚Zuneigung’ eigentlich nicht mehr zur Beschreibung ausreichte. Diese Gefühle waren viel stärker – und ganz eigenartig war, dass sie mir auf eine merkwürdige Weise vertraut vorkamen. Welche Beziehung verband mich mit diesem Wesen?
Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, nach Hause zu gehen aber ich brachte die Räumlichkeit meines Büros nun mit diesem wunderbaren Erlebnis in Verbindung und so konnte ich mich von diesem Ort nicht lösen. Es handelte sich hier zwar um meine Arbeitsstätte, also im Grunde alles andere als ein Ort, an dem ich mich normalerweise behaglich fühlte, doch war dieser nun einmal vom Fallout dieses Zaubers behaftet und ich wagte nicht, mich von diesem Ort zu entfernen, der eben dadurch zu etwas Besonderem geworden war. Ich wollte natürlich mehr, ich wollte dieses Phänomen unbedingt tiefer ergründen aber ganz instinktiv ahnte ich, dass ich es durch zu viel Übermut auch beschädigen konnte. So beschloss ich, mit dieser Erscheinung behutsam und umsichtig umzugehen. Ich spürte auch die Gefahr, die von dieser verlockenden aber mir unbekannten Welt ausging, die Gefahr in ihr zu versinken und möglicherweise gänzlich hinweggespült zu werden. Also versuchte ich, mich etwas von ihr zu lösen und wendete mich einigen beruflichen Routinearbeiten zu, auch weil ich hoffte, dadurch auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Natürlich konnte ich mich nur mit Mühe auf meine Arbeit konzentrieren, das Verlangen nach diesem einzigartigen Erlebnis und die Neugierde, es tiefer zu ergründen, zogen alle meine Gedanken auf sich und ich konnte nicht davon lassen, im Laufe des Tages immer wieder zu versuchen, vorsichtig Kontakt mit Jaganath aufzunehmen, wie um mir zu versichern, dass das auch tatsächlich alles wirklich war und ob sie denn tatsächlich noch da war. Nach einiger Zeit war es so, dass ich im Geiste nur die reine Absicht zu fassen brauchte, sie zu rufen, da brach sie schon über mich herein, wie wenn sie nur ungeduldig darauf gewartet hätte, dass ich ihr endlich wieder meine Aufmerksamkeit zuwandte. Aber es gab auch einige erfolglose Versuche, bei denen mir nicht klar war, ob es daran lag, dass Jaganath gerade nicht anwesend war oder ob ich die Kontaktaufnahme nicht konzentriert genug begonnen hatte. Und es blieb auch dabei, dass sich meine Wahrnehmung auf diese Gefühlsebene beschränkte; eine darüber hinausgehende Kommunikation vermochte ich nicht aufzubauen. Ich hatte ja keinerlei Erfahrung im Umgang mit der spirituellen Welt und so wusste ich nicht, was ich von mir aus tun konnte. Ich wusste nur eines: Sie war da und ich konnte sie spüren! Und dieses Spüren war Realität und das genügte mir vorerst auch vollkommen. Ich wusste nun, dass da Etwas war.
Außerdem gab es da noch Frau Gladczek, die ja über einschlägige Erfahrungen verfügte. So rief ich sie im Laufe des Tages an und vereinbarte mit ihr, den nächsten Termin vorzuverlegen, sagte aber nichts über meine Gründe. Ich freute mich riesig auf die Bombe, die ich würde platzen lassen können und brannte vor Neugierde auf das fachliches Urteil von Frau Gladczek, obwohl ich zugleich etwas bangte, ob sich nicht alles nur als Folge einer zu blühenden Phantasie erweisen würde. In dieser etwas beklommenen Stimmung ging der Tag für mich dann auch zu Ende und ich war von all den Ereignissen, die er erbracht hatte, so geschafft, dass ich in der Nacht tief und fest durchschlief.

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