ein Wesen

 

erster Kontakt

Schließlich wurde ich durch das penetrante, näselnde Quäken meines elektronischen Weckers endgültig aus dem Schlaf geholt. Nach dem ich das nervige Määäp Määäp Määäp mit einer bereits gänzlich automatisierten, ausholenden Schlagbewegung zum Verstummen gebracht hatte, besann sich mein Wachbewusstsein langsam darauf, dass ich mich in meinem realen Schlafzimmer befand. Nachdem es diese Erkenntnis als gesichert eingestuft hatte, erweiterte es den Radius seiner Wahrnehmung vorsichtig weiter und weiter, bis es auf einen greifbaren Inhalt stieß, den es etwas widerstrebend als einen heranstehenden normalen Arbeitstag identifizierte.
   „Musste das sein?“
Also war ich verpflichtet, mich ins Büro aufzumachen – und das leider ganz alleine, ohne eine schöne Waffengefährtin an meiner Seite. Als ich mich, offenbar doch noch leicht von der Stimmung des Traumes befangen, von meiner Frau verabschiedete, fragte sie mich wiederum, was denn eigentlich in letzter Zeit mit mir los sei. Aber was tatsächlich mit mir los war, das konnte und wollte ich ihr nicht wirklich erzählen.
Als ich endlich im Büro angekommen war und mich an meinen Personal Computer setzte, fiel es mir schwer, mich auf meine profanen betriebswirtschaftlichen Analysen zu konzentrieren. Die Erlebnisse dieser Nacht waren einfach zu aufregend gewesen. In meinem Job hatte ich einen Verantwortungsbereich, in dem ich weitgehend selbständig arbeiten konnte und ich hatte außerdem ein eigenes Büro, was es mir ermöglichte, meine Zeit meist recht frei einzuteilen. Wenn gerade keine dringenden Projekte anstanden, konnte ich mich tagsüber auch mal eine Weile mit privaten Angelegenheiten befassen und die Routineaufgaben dann zu einem späteren Zeitpunkt aufarbeiten. Dieser Tag war glücklicherweise einer derjenigen, an denen nichts Besonderes anlag und so beschloss ich, mich zunächst einmal mit meiner so neuen und faszinierenden Erlebniswelt zu befassen. Vor allem ließ mich dieses Wort ‚Juggernaut’ nun doch nicht mehr los. Es war schon eine ausgesprochen seltsame Begebenheit gewesen, wie dieser Begriff so deutlich in mein Bewusstsein getreten war und der Gedanke an die ‚Botschaften aus anderen Dimensionen’, von denen Frau Gladczek gesprochen hatte, drängte sich mir wieder auf.

Ich konnte ja einmal ganz unverbindlich im Internet nach diesem Wort forschen. Ich tippte es eher beiläufig in einer Suchmaschine ein, da ich selbstverständlich erwartete, einfach nur einen Hinweis auf den Science-Fiction-Roman von Philip José Farmer zu finden. Dabei stellte sich jedoch heraus, dass es sich eigentlich um ein eher gebräuchliches Wort aus dem Englischen handelte. Das war mir dann doch gänzlich neu. Ich war überrascht! Ich betrachtete die Liste der Suchergebnisse nun aufmerksamer. Es bedeutete ‚Moloch’, oder ‚alles verschlingende Kraft’ – ich hatte bisher immer angenommen, es handle sich um eine eigene Wortschöpfung Farmers. Nun trat mein Perfektionismus auf den Plan und ließ mich nach einem umfangreicheren Wörterbuch suchen und bei dem, was ich darin fand, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Ich las:
   „Das englische Wort Juggernaut ist abgeleitet aus dem Sanskrit!
Es bezeichnet im Original die Hindu-Gottheit Janganath!“

Ich war erschrocken, entsetzt, fassungslos. Doch auch meine Faszination für diese neue Welt stieg darüber ins schier Unermessliche! Frau Gladczek hatte mir spirituelle Wahrnehmungen avisiert und der Begriff, den ich ob seiner scheinbaren Banalität als eine Solche arglos und eher beiläufig akzeptiert hatte, führte mich sozusagen durch die Hintertür zu den religiösen Überzeugungen von Frau Gladczek und eventuell auch zu der Lanzenkriegerin oder Tempeltänzerin? Mächtige Gefühlswallungen drangen nun auf das Bollwerk von Nüchternheit ein, das mein auf Vernunft gegründetes Verstandesdenken schützte. In meinem Verstand versuchten die Gedanken hektisch die Verteidigung zu organisieren. Es handelte sich bei der Übermittlung dieses so beziehungsreichen Begriffs um einen Vorgang, dem keinerlei Logik oder Kausalität zugrunde lag. Unter meinen Gedanken breitete sich Panik aus. Was hatte das zu bedeuten? Ich versuchte zunächst einmal, alle Vorgänge in meinem Verstand zu beruhigen und ganz nüchtern zu analysieren, was hier denn eigentlich Sache war. Also, zuerst einmal die Fakten: ich hatte ein ziemlich gutes assoziatives Gedächtnis und war mir zu hundertkommanull Prozent sicher, den Bezug des mir aus einem völlig anderen Kontext geläufigen Begriffs ‚Juggernaut’ zur indischen Philosophie oder Religion noch nie zuvor irgendwoher erfahren zu haben. Es war meiner Einschätzung nach weiterhin völlig ausgeschlossen, dass mir diese Verbindung von meinem Unterbewusstsein – als Information, die ich irgendwann einmal aufgenommen hatte und die dann dort verschütt gegangen sein mochte – untergeschoben worden war. Ich kannte meinen Sprachschatz sehr genau und diese begriffliche Verbindung befand sich ganz bestimmt nicht in Reichweite meiner Kenntnis. Der so überaus intelligente und sinnvolle Zusammenhang der sich hier offenbarte, war mir völlig unerklärlich. Als mir langsam bewusst wurde, welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, sollte sich der Verdacht bestätigen, der sich hier ja geradezu aufdrängte, geriet mein gesamtes Weltbild ins Wanken.

Denn mir war klar, dass es für dieses seltsame Geschehen aus Sicht der Vernunft nur zwei mögliche Erklärungen geben konnte. Es konnte sich natürlich um einen reinen Zufall handeln. Aber damit dieses Ereignis genau so hatte eintreten können, wie es eingetreten war, waren derart viele Einflussgrößen vonnöten gewesen, die alle als zufällig angenommen werden mussten und dabei jede für sich so unwahrscheinlich waren, dass die Potenzierung ihrer äußerst niedrigen Erwartung eine dermaßen geringe Wahrscheinlichkeit für deren Eintreten ergab, dass sich schlicht die Balken, auf denen die gesamte Wahrscheinlichkeitsrechnung beruhte, bogen! Wenn das ein reiner Zufall sein sollte, so handelte es sich schon um einen höchst merkwürdigen! Aber nach der Theorie war ein solcher Zufall natürlich schon möglich, so weit war ich in Statistik durchaus bewandert. Und ich wollte mir die Möglichkeit eines bloßen Zufalls als Erklärungsansatz im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Sichtweise auf jeden Fall offen halten, denn auch Zufälle mit extrem geringer Wahrscheinlichkeit passierten ja definitiv, wenn auch selten. Warum also nicht in diesem Falle? Es konnte sich bei alldem immer noch um nichts weiter als phantasievolle Träumereien in Verbindung mit einem – zugegebenermaßen – höchst seltsamen Zufall handeln.
Aber da gab es ja auch noch diesen ganz anderen Erklärungsansatz! Und der war in dem, worauf er letztlich hinauslaufen musste, einfach unglaublich. Frau Gladczek, eine ernsthafte und bodenständige Psychologin, hatte mir eine spirituelle Botschaft angekündigt. Der Begriff, von dem ich den starken Eindruck hatte, dass er eine solche Botschaft war, war ein Begriff, den ich arglos schluckte und in mein Bewusstsein einließ, weil er für mich so banal war. Und dieser Begriff entpuppte sich schließlich als ein trojanisches Pferd allererster Güte! Hätte man mir einen geläufigen Begriff wie ‚Krishna’ oder ‚Shiva’ als ‚Botschaft’ zu Bewusstsein gebracht, so hätte ich dem keinerlei Bedeutung zugemessen, denn diese Namen waren mir ja bekannt und es wäre ja völlig klar gewesen, dass sie auf Indien und den Hinduismus wiesen. Es wäre nichts Besonderes gewesen. Nein, wollte man meine Aufmerksamkeit und mein echtes Interesse erwecken, wollte man mich geschickt und überzeugend einfangen, so konnte dies nur mit einem wirklich intelligenten Schachzug geschehen. Und ein solcher lag hier ganz offenbar vor.

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