Meister des Lebens – Konzept nach C.G. Jung: Die Well Rounded Personality

Was ich Ihnen hier auf jeden Fall noch schuldig geblieben bin, ist eine doch etwas greifbarere Aussage zu jenem so wunderbaren und gleichzeitig so geheimnisvollen Ziel, zu dem der eigene Weg denn führen soll. Ich habe bisher ja nur angedeutet, dass ich die außergewöhnlichen Begebenheiten meiner Geschichte als einen Hinweis darauf erachte, wie sich ein Leben gestalten könnte, wenn es einem gelänge, diesen eigenen Weg zu finden beziehungsweise die Anforderungen des Individuationsprozesses im Sinne Jungs zu meistern.
Doch was kann man denn nun konkret erwarten? Wofür sollte man die bequeme Autobahn verlassen? Wozu sollte man diese ganzen Mühen auf sich nehmen, die uns dieser eigene Weg abverlangt? Wie sieht das verheißungsvolle Ziel, welches die viele Mühe lohnen soll, ganz praktisch im Alltag aus?

Dass ich nicht glaube, das Ziel des Weges bestünde in irgendeiner Art spektakulärer Erleuchtung, zu der man an einem Punkt seines Lebens gelangen kann und die einen zu einem wundertätigen Auserwählten macht, dürfte wohl deutlich geworden sein.
Wenn wir einmal auf das Christentum schauen, so besteht das Ziel dieses Weges ganz offenbar im ewigen Leben im Paradies. Doch den Kniff, dieses Ziel ganz elegant auf einen Zeitpunkt jenseits des eigentlichen Lebens zu verlegen, finde ich auch nicht gerade überzeugend. Und leider lässt mich an dieser Stelle auch mein ach so verehrter C.G. Jung im Stich, er hat sich in seinem Werk nirgendwo darauf eingelassen, explizit zu beschrieben, was einem Menschen widerfahren könnte, dem es gelungen ist, den Individuationsprozess zu vollenden. Immer, wenn er in seinen Schriften an den Punkt gelangte, an dem man hätte erwarten können, dass er doch einmal genauer erklärt, was man sich denn nun unter den möglichen Auswirkungen einer solchen Verwirklichung des Selbst vorzustellen hat, ging er – sicherlich ganz gezielt und mit voller Absicht – dazu über, in seinen Formulierungen sehr nebulös zu werden. Wobei das – so finde ich – eher für ihn spricht, denn er setzte damit keine irrigen Heilsversprechen in die Welt, wie so viele andere das tun und denen einfache Gemüter dann meist allzu leicht und oft zu ihrem eigenen Schaden verfallen.
Man muss die Schriften C.G. Jungs schon sehr gut kennen, eine ganze Reihe an Zitaten zusammentragen und die für ihn typische und nicht immer ganz eingängige Sprache mit viel Sachverstand und Einfühlungsvermögen interpretieren, um daraus zu rekonstruieren, was Jung sich wohl unter der Bestimmung des Menschen beziehungsweise dem Ziel des Weges vorgestellt haben mochte.
Dr. Tewes Wischmann vom Universitätsklinikum Heidelberg hat sich die Mühe gemacht, die entsprechenden Zitate Jungs stimmig zusammenzustellen und sie in einem bemerkenswerten Manuskript herausgegeben. [Fußnote: Dr. Tewes Wischmann, Der Individuationsprozeß in der analytischen Psychologie C. G. Jungs – eine Einführung, Heidelberg 1994, das empfehlenswerte Manuskript ist im Internet als pdf-Dokument verfügbar. Und es handelt sich bei diesem Manuskript – in Bezug auf meine obige Anmerkung – meiner Einschätzung nach um eine der absolut seriösen Quellen zur Lehre Jungs.] Demnach lassen sich die Vorstellungen, die Jung selbst vom Ziel des Individuationsprozess hatte, wie folgt verdichten:
„Der Zweck der Individuation ist nun kein anderer, als das Selbst aus den falschen Hüllen der Persona einerseits und aus der Suggestivgewalt unbewusster Bilder andererseits zu befreien“ [Fußnote: C. G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Rascher, Zürich 1933, S. 66, Quellenangabe nach Wischmann]. „Mit der Empfindung des Selbst als etwas Irrationalem, undefinierbar Seiendem, dem das Ich nicht entgegensteht und nicht unterworfen ist, sondern anhängt und um welches es gewissermaßen rotiert wie die Erde um die Sonne, ist das Ziel der Individuation erreicht […]. So ist das Selbst auch das Ziel des Lebens, denn es ist der völligste Ausdruck der Schicksalskombination, die man Individuum nennt, und nicht nur des einzelnen Menschen, sondern einer ganzen Gruppe, in der einer den anderen zum völligen Bilde ergänzt“ [Fußnote: C. G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Rascher, Zürich 1933, S.137, Quellenangabe nach Wischmann].
Damit dürfte wohl auch deutlich werden, was ich in Bezug auf die Sprache meinte, die Jung zu Eigen war, denn dieses relativ deutliche Bekenntnis Jungs erschließt sich wohl nur denjenigen Menschen so richtig, die mit seiner Lehre und seinen Begrifflichkeiten einigermaßen vertraut sind. Erfreulicherweise gibt es aber auch eine beachtliche Anzahl von Psychologen, die sich von Jungs Lehre haben begeistern lassen und diese weiterführen und so bin ich im Skript von Dr. Wischmann auf eine sehr anschauliche und griffige Beschreibung gestoßen, die das doch eher schwer fassbare Phänomen der Individuation aus einer ganz praktischen Sichtweise beschreibt. Der Psychiater Alfred Plaut hat vor einigen Jahren den Versuch unternommen, einmal zu veranschaulichen, wie Menschen, die sich auf den Weg der Individuation eingelassen haben und darauf wohl ein gutes Stück weit vorangekommen sein mögen, sich im Alltag ausmachen könnten: Es mag sich darin zeigen, „dass sie als besonders abgerundet wirkende Persönlichkeiten (Well Rounded Personalities) erscheinen. Obwohl diese Qualität kaum definierbar ist, kann man doch erfahren, dass man sich nach der Begegnung mit einem solchen Menschen mit der Welt besser verbunden fühlt […]. Ihre Haltung zu den grundlegenden Ereignissen des Lebens und Sterbens scheint eine naturgemäßere Philosophie hervorzubringen, der gegenüber das Streben und Jagen in unseren Tretmühlen, dem sich die meisten von uns verschrieben haben, lächerlich und klein erscheint […]. In der Umgangssprache würde man den individuierten Menschen vielleicht als ausbalanciert (as together people) bezeichnen.“ [Fußnote: Alfred Plaut: Individuation – ein Grundkonzept der Psychotherapie, in: Analyt. Psychol., Vol. 10, S. 173 -189, 1979, Quellenangabe nach Wischmann]

Ich muss einfach immer wieder darauf abheben, dass Jung auf mich eben deshalb so überzeugend wirkt, weil man seine Auffassungen auch ganz praktisch im Alltag bestätigt finden kann. Ich hatte ja erwähnt, dass ich in meinem Leben einigen (wenigen) jener in dieser besonderen Weise beeindruckenden Menschen begegnet war und als ich zum ersten Mal las, was Plaut da beschrieben hat, war mir sofort klar, dass er mit seinen ‚Well Rounded Personalities’ eben Menschen wie diese meinte. Man könnte sie wohl auch etwas poetischer Meister des Lebens oder vielleicht ganz einfach Meister nennen, wie es etwa das Daodejing tut. Es ist überaus faszinierend, wenn man solche Menschen ganz unmittelbar erleben darf. Ein ganz besonderer Zauber geht von ihnen aus und man fühlt sich nach einer Begegnung mit ihnen wahrlich in eine bessere Stimmung versetzt. Und diese Menschen haben auf jeden Fall eines gemein: Sie würden niemals von sich selbst sagen, sie seien ‚Erleuchtete’ oder ‚Auserwählte’. Dabei fallen die meisten von ihnen unter ihren Mitmenschen erst gar nicht auf, weil unsere moderne Welt eigentlich keinerlei Maßstäbe für derartige Qualitäten mehr hat. Die meisten dieser Persönlichkeiten findet man ohnehin nicht in irgendwelchen herausragenden gesellschaftlichen Positionen und man muss schon genauer hinschauen und wissen, worauf man achten muss, um sie wirklich zu erkennen – also wenn sie einmal auf einen Bergbauern treffen, der so wirkt, als wäre er ganz eins mit sich und der Welt oder einer Buchhändlerin begegnen, die es vermag, ihr Herz auf ganz besondere Weise zu rühren … Es handelt sich dabei möglicherweise um diese individuierten Persönlichkeiten, die Well Rounded Personalities, denen in unserer Gesellschaft eben eher nicht die glänzenden Karrieren beschieden sind.
Dass dem so ist, mag wohl auch daran liegen, dass sie in ihrer naturgemäßeren Lebenshaltung Zugang zu einem tieferen Wissen haben und daher Wahrheiten zu sehen vermögen, die den meisten Menschen erst gar nicht bewusst sind. Hinzu kommt, dass sie mit ihrem tieferen Einblick in die Dinge des Lebens auf all die unbewussten Menschen ja auch in gewissem Sinne bedrohlich wirken, denn diese Well Rounded Personalities stellen für die unbewussten Menschen immerhin eine nicht unbeträchtliche Gefahr dar. Wie die Tiefenpsychologie ja so überzeugend darlegt, vermögen alle wichtigen Inhalte, die ins Unbewusste verdrängt sind und dort abgesondert vor sich hin gären, das Ich-Bewusstsein in beträchtliche Angst zu versetzen. Auch wenn es ihnen nicht wirklich bewusst ist, so spüren doch viele oberflächliche Menschen instinktiv die Gefahr, die darin liegt, unvermittelt mit diesen unangenehmen, tiefer liegenden Wahrheiten konfrontiert zu werden. Und solche individuierten Persönlichkeiten besitzen eben nicht nur die Fähigkeit, solche Wahrheiten deutlich zu erkennen, sondern haben leider auch die unangenehme Eigenart, diese gerne einmal in eben dieser Deutlichkeit auszusprechen, so dass sie in den etablierten und in der Regel weitgehend substanzlosen Kreisen gar nicht gerne gesehen sind und schon gar nicht in den Zirkeln der Macht und des Geldes. Man schätzt dort keine unangenehmen Mahner und Spielverderber. Nur wer selbst in der Entwicklung seiner Persönlichkeit etwas weiter gelangt ist und somit etwas tiefer zu blicken vermag, nimmt solche Eigenschaften überhaupt als eine Qualität wahr und weiß sie als solche zu schätzen.

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