Und da erschien ihm ein Engel ...

Denn es war ja vor allem jene Episode mit dem Bikini gewesen, die mich so beschäftigt hatte – jetzt nicht wegen der für Männer ja reizvollen bildlichen Vorstellung einer ‚Frau im Bikini’ – sondern wegen der zwischenmenschlichen Dimension, die mir in dieser Begebenheit ersichtlich wurde. Der Journalist hatte ja zum Ausdruck gebracht, dass seine Frau durchaus eine gute Figur hatte und nur über eine etwas unvorteilhafte individuelle Ausgestaltung eines gewissen Körperteils verfügte – ganz abgesehen davon, dass das Aussehen eines Menschen natürlich immer eine Frage des persönlichen Geschmacks ist.
Doch gibt es ja in Bezug auf das äußere Erscheinungsbild eines Menschen durchaus ein gewisses Ideal und damit vielleicht doch eine ungefähre Annährung an eine Wahrheit. Denn schon die Statuen, die uns aus der Antike erhalten sind, führen ja deutlich vor Augen, wie ein menschlicher Körper im Idealfall gestaltet sein kann und heutzutage ist, was ein schlankes und was ein etwas zu stark ausgeprägtes Becken ist, in Modemagazinen, Filmen oder in natura an unseren Stränden eigentlich allen ersichtlich – wobei unterschiedliche Linienführungen dieser Konturen glücklicherweise ja auch bei ganz unterschiedlichen Geschmäckern Anklang finden. Im Grunde hätte der Frau des Journalisten also jeder Blick in den Spiegel und jedes Erinnerungsfoto vom Strand sagen können, wie es um ihre gewisse Zone bestellt war. Das heißt, der Frau des Journalisten hätte auch die Möglichkeit offen gestanden, ihrem Mann einfach dafür dankbar zu sein, dass er ihr seine ehrliche Meinung gesagt hatte und sie ja eigentlich auch nur vor einem modischen Fehlgriff hatte bewahren wollen. Doch sie wollte offenbar gar nicht die Wahrheit über sich hören – wie in solchen Fällen sicherlich die meisten Frauen und das genauso sicher wie wohl zu nur wenigen Gelegenheiten so viel gelogen wird wie überhaupt bei Komplimenten, die Frauen gemacht werden.
Jedenfalls wurde mir aus dieser Episode ein ganz bestimmter menschlicher Aspekt ersichtlich. Denn mein Gedanke war, dass die Frau des Journalisten aufgrund der technischen Hilfsmittel Spiegel und Fotografie ganz sicherlich Kenntnis von ihrer Problemzone hätte haben können, und mir wurde klar, dass es ihr im Grunde an Selbst-Erkenntnis mangelte.

Lüge und Selbsterkenntnis

Und daraus wurde mir wiederum der tiefere Bezug klar, aus dem heraus mich das Thema ‚Lüge’ so beschäftigt hatte: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Lüge und Selbsterkenntnis.
Das humanistische Ideal, sich in Selbsterkenntnis zu üben, gehört ja zu den ältesten kulturellen Vorstellungen der Menschheit überhaupt. Schon in den frühesten überlieferten Lehren der Menschheit wird ja die Forderung erhoben, sich in Selbsterkenntnis zu üben, bis sie vor gut zweitausendfünfhundert Jahren denn auch für alle ersichtlich als Inschrift am Apollontempel von Delphi prangte: ‚Gnothi seauton’ – ‚Erkenne dich selbst’. Das Wissen um die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis ist ein Schlüsselelement sowohl der wichtigsten philosophischen Schulen als auch aller ernsthaften spirituellen Wege der Menschheit. In beiden Gebieten ist bekannt, dass eine Entwicklung des menschlichen Geistes beziehungsweise eine spirituelle Erweiterung des Bewusstseins nur über den Weg der Selbsterkenntnis möglich ist. Menschen, die sich nicht in Selbsterkenntnis üben, bleiben unentwickelt und eindimensional. Sie werden zwar älter an Jahren, aber sie werden nicht erwachsen.

Und da ich mich ja nun schon seit etlichen Jahren mit solchen spirituellen Lehren beschäftige, wurde mir über meine solchermaßen geänderte Betrachtungsweise klar, dass sich ganz grundsätzlich einige sehr interessante Zusammenhänge zwischen Lügen und geübter Selbsterkenntnis zeigen.
So verhilft einem etwa der Blick in den Spiegel zur Erkenntnis über die eigenen Äußerlichkeiten. Doch man muss es offenbar auch wollen, diese genau so zu sehen, wie der Spiegel sie zeigt. Denn es gibt ja ganz offensichtlich viele Menschen, die in einen Spiegel blicken und nichts darin zu erkennen vermögen – jedenfalls nicht das, was er wirklich zeigt. Wenn man sich auf den Straßen einmal so anschaut, auf welche Weise viele Leute sich kleiden, so wird einem eben dieser Umstand nur allzu schmerzlich offenbar. Es hat schon auch seinen Grund, dass das Entsetzen so häufig spontan in dem inneren Ausruf Ausdruck findet: „Oh mein Gott! Haben die denn keinen Spiegel zu Hause?“ Und im Grunde bedeutet Selbsterkenntnis nichts anderes als einen Blick in einen geistigen Spiegel zu werfen. Allerdings verstehen viele Philosophien und Lehren unter Selbsterkenntnis eher, kontemplativ und meditativ in sich zu gehen und ‚sich selbst’ in einem geistigen Spiegel zu betrachten. Doch die wahren Lehren wussten von jeher, dass der beste Spiegel solcher Art doch eigentlich unsere Mitmenschen sind und je näher sie uns stehen, desto deutlicher sollten sie uns die Eigentümlichkeiten unseres eigenen Wesens spiegeln. Und die Form größter Nähe ist dabei schon immer die Partnerschaft zwischen zwei Menschen – wenn man einmal von der Mutter-Kind-Beziehung absieht, die ja als solche einzigartig ist. Ja es ist gar ein ganz wesentlicher Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen überhaupt, dass andere uns unsere Charaktermerkmale widerspiegeln. Wirkliche Selbsterkenntnis ist letztlich nur über das unmittelbare Gegenüber, das vertraute ‚Du’ zwischen sich nahestehenden Menschen, und eben nicht in selbstbezogenen, theoretischen und dabei vom praktischen Leben weitgehend losgelösten Betrachtungen möglich.

Der Journalist wäre sicherlich den leichteren Weg gegangen, wenn er seine Frau in jener Situation einfach belogen hätte – wie dies sicherlich auch der häufigste Grund ist, warum überhaupt gelogen wird. Oft ist es eben die Annahme beziehungsweise der fatale Irrtum, eine Lüge sei der einfachere Weg.
Doch muss man es nicht so sehen, dass, wenn dies denn die ‚normale’ Situation gewesen wäre, in der er eben nicht gewagt hätte, zu sagen, was er wirklich denkt, ihn seine Frau praktisch zu einer Lüge genötigt hätte, weil sie zu wenig Erkenntnis über sich selbst besaß? Im Grunde war es ja schon der erste Fehler von ihr, überhaupt nachzufragen, warum ihr Mann ihr denn von diesen Bikini abriet. Denn sie hätte ahnen können beziehungsweise müssen, worin wohl der Grund für das Urteil ihres Mannes lag und es war mir schon immer völlig unerklärlich, dass Menschen so einfältig sein können, nach Dingen zu fragen, die sie doch eigentlich gar nicht wissen möchten.
Ja, fordern viele Menschen es nicht geradezu heraus, belogen zu werden, weil sie über zu wenig Selbsterkenntnis verfügen und es anderen Leuten nicht etwa danken, sondern ganz im Gegenteil verübeln, wenn diese eine Wahrheit über sie aussprechen, weil sie eben die Wahrheit über sich selbst gar nicht kennen beziehungsweise nicht wahrhaben wollen?
Wäre es nicht so, dass wenn jeder Mensch über eine umfassende Selbsterkenntnis verfügte, gleich eine ganze Kategorie an Lügen vollkommen überflüssig würde? Ist es nicht so, dass wir andere Menschen im Grunde dazu nötigen, uns anzulügen, weil wir den anderen die Wahrheit verübeln, nur weil diese uns unangenehm und daher meist unbekannt ist – und wir eben unangenehme Dinge an uns nicht wahrhaben, ja gar nicht erst wissen wollen? Ganz offensichtlich bringen es ja viele Leute fertig, sich in einem Spiegel zu betrachten und dabei die doch eher ungünstig ausgeprägten Merkmale ihres eigenen Körpers glatt zu übersehen, weil es nun mal so überaus schmerzlich ist, zu erkennen dass man selbst vom Idealbild eines menschlichen Körpers mehr oder weniger weit abweicht. Ich für meinen Teil bin mir jedenfalls bewusst, dass ich das, was sich mir im Spiegel zeigt, als unangenehm empfinde und ich deshalb – tatsächlich oft mehr unbewusst als bewusst – gar nicht so genau hinschaue. Und es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob man dies bewusst oder unbewusst tut.

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