Und da erschien ihm ein Engel ...

Von Menschen, deren Wahrheiten man gar nicht hören möchte

Bei dieser Gelegenheit sei auch noch erwähnt, dass sich meine Überlegungen natürlich auf Menschen beziehen, die sich zu einem einigermaßen vernünftigen Erwachsenen entwickelt haben, also auf Menschen, die über eine einigermaßen gereifte Persönlichkeit verfügen. Denn ich möchte ja am Ende darauf hinaus, dass sich solche vernünftige, gereifte Menschen eigentlich gar nicht gegenseitig belügen müssten beziehungsweise sollten.
Doch es gibt natürlich auch Menschen, die ganz erhebliche Verwerfungen in ihrer Persönlichkeit aufweisen, Menschen, von denen man erst gar nicht wissen will, was sie wirklich denken und es einfach besser ist, wenn sie ihre kruden Gedanken für sich behalten beziehungsweise für die es zur Wahrung ihrer sozialen Existenz eigentlich unablässlich ist, ihre wahren Gedanken zu verheimlichen. Ein Pädophiler, ein Vergewaltiger, ein Sadist, ein Folterknecht, ein Rechtsradikaler, ein gewissenloser Betrüger und im Grunde ja schon Menschen deren Persönlichkeit auch nur eine Tendenz zu solchen Verwerfungen aufweist, können natürlich gar nicht aussprechen, was sie wirklich denken und auch ein Chauvinist oder Sexist kann es heutzutage in seinem ureigensten Interesse – und schon gar nicht wenn modern denkende Frauen zugegen sind – kaum noch wagen, die Gedanken auszusprechen, die ihm gerade wirklich durch den Kopf gehen. Abgesehen davon, dass ich selbst spontan sagen würde: ich möchte das auch gar nicht wissen, wäre es wohl dennoch besser, wenn auch solche Leute offen aussprechen würden, was sie tatsächlich denken, so dass man weiß, mit wem man es da zu tun hat und man etwa den gefährlichen Fällen unter ihnen rechtzeitig eine entsprechende Behandlung angedeihen lassen beziehungsweise sie aus dem Verkehr ziehen könnte, bevor sie anderen Menschen Schaden zufügen. Doch – wie gesagt – ich möchte mich hier eben mit einem ganz anderen Aspekt des Lügens befassen.

Ein verunglücktes Tiramisu

Ich hatte im Zuge meiner Überlegungen natürlich auch darüber nachgedacht, ob es nicht in meinem eigenen Leben die eine oder andere Begebenheiten gab, anhand derer ich meine Auffassung noch etwas besser veranschaulichen kann. Und so erinnerte ich mich denn wieder an eine Begebenheit, als ich in meinem Bekanntenkreis einmal äußerte, dass ich Tiramisu über alles lieben würde und eine junge Frau daraufhin voller Überzeugung damit herausplatzte, das Tiramisu, das sie machen würde, sei ja ganz fantastisch und dass sie bei nächster Gelegenheit ihre Kunst doch einmal demonstrieren wolle und sie dann natürlich gespannt auf mein Urteil wäre.
Nun, nicht selten widerfährt es ja Kindern, dass sie von ihren Eltern verwöhnt und verhätschelt werden, sie als die kleine Prinzessin oder der kleine Prinz der Mittelpunkt der Familie sind und alles, was sie tun, bejubelt wird und einfach nur ganz großartig ist. Das Ergebnis ist dann meist, dass sich solche Kinder als Jugendliche oder junge Erwachsene maßlos selbst überschätzen und es dann oft recht bitter lernen müssen, ein realistisches Bild ihrer Fähigkeiten zu gewinnen und die von den Eltern angelegte Selbstüberschätzung wieder zurückzuschrauben. Diese junge Frau war ein geradezu klassisches Beispiel für das Ergebnis solcher Erziehungsweisen, denn sie überschätzte mit Anfang 20 aufgrund der ihr in ihrer Kindheit vermittelten Eigenwahrnehmung ihre eigenen Fähigkeiten, ihr Wissen und Können maßlos. Sie hatte aber trotz des unseligen Einflusses ihrer Familie aus ihrem inneren Wesen heraus eine aufgeschlossene Einstellung zum Leben und immerhin ganz ähnliche Sichtweisen wie ich selbst entwickelt, was mir natürlich sehr gefiel, so dass ich mich in besonderem Maße mit ihr befasste, worauf sie mir wiederum eine entsprechende Wertschätzung entgegenbrachte und einen ganz besonderen Wert auf meine Meinung legte.
Es kam in diesem Falle jedenfalls, wie es kommen musste, nämlich dass sie bei der nächsten Gelegenheit ein selbstgemachtes Tiramisu präsentierte und da ihr ja Werk so großartig war, hatte sie gleich zwei große Schalen davon zubereitet. Und sie war natürlich ganz besonders gespannt auf mein Urteil über ihr Oeuvre.
Nun ist es so, dass es bei der Herstellung eines Tiramisu tatsächlich einige Kniffe gibt, die man einfach beherrschen muss und man dabei durchaus den einen oder anderen Fehler machen kann, aber es war auf jeden Fall das schlechteste Tiramisu das ich jemals gegessen hatte. Die Biskuits waren im Espresso völlig ertrunken, so dass sich eine matschige Suppe gebildet hatte, die Mascarpone-Creme war ebenfalls zu flüssig, ja es fehlte das typische feine Aroma, das diese italienischen Frischkäsespezialität ja eigentlich ausmacht und sie hatte in jedem Fall auch zu wenig davon verwendet. Ich konnte beobachten, dass alle anderen, die von ihrem Tiramisu kosteten, insgeheim die Augen verdrehtenund nur wenige Löffel davon aßen – auf meine diskrete Nachfrage hin wurde mir einhellig bestätigt, es sei ‚furchtbar’.
Unter den gegebenen Umständen war es natürlich unvermeidlich, dass von der jungen Frau irgendwann die Frage kommen musste, was ich denn nun zu ihrem Tiramisu sagen würde? Die junge Frau war mit einem wirklich netten jungen Mann liiert, den ich daher rechtzeitig beiseite nahm und ihm im Vertrauen sagte, dass das Werk seiner Freundin durchaus noch etwas ausbaufähig wäre und ich als erfahrener Hobbykoch den einen oder anderen Tipp zur Verbesserung ihres Rezeptes anbieten könne und wie er denn so die Situation einschätze, ob ich ihr denn in dieser diplomatischen Form sagen könne, dass ihr Werk noch ausbaufähig sei? Das Unglück ergriff von seinem Gesicht Besitz. Er bat mich dringend, ihr dies nicht so zu sagen, sie wäre maßlos enttäuscht, ja es würde sie mit Sicherheit verletzen.
Also sagte ich ihr freundlich, dass mir ihr Tiramisu gut geschmeckt hätte – ich log sie also an und als man ihr zutrug, dass die zweite Schale noch fast vollständig übrig sei – die anderen bekundeten beziehungsweise logen, sie wären ja so ’was von satt –, verfügte sie, dass ich diese doch mit nach Hause nehmen solle, da es mir ja so gut geschmeckt habe. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu Hause den ganzen Matsch anderweitig zu entsorgen.
Nun bin ich selbst ein ambitionierter Hobbykoch und ich erinnere mich gut, wie sehr es schmerzte, als eine gute Freundin mein exquisites Lammragout einmal dahingehend beurteilte, es sei doch eher so etwas wie ein Gemüseeintopf mit Lammeinlage oder dass meine durchkomponierte Sauce zur Rehkeule doch arg rotweinlastig sei – aber ich war mir eben bewusst, dass diese Kritik nicht unberechtigt war und ich nahm es als wertvollen und sachkundigen Hinweis, meine Rezepturen zu verbessern. Ja – ich kenne selbst nur zu gut die Enttäuschung, wenn einem ein Gericht nicht so gelingt, wie man es sich vorgestellt hatte beziehungsweise man weiß, wie es eigentlich schmecken könnte, doch es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, mir dies einzugestehen und daraus eben den Ehrgeiz zu schöpfen, es beim nächsten Mal besser zu machen.
In jedem Falle war es so, dass ich die Begebenheit mit jenem Tiramisu als eine ausgesprochene Peinlichkeit empfand und die maßgeblichen Ursachen für die Peinlichkeit jener Situation lagen sicherlich in der verunglückten Ambition in der Erziehung durch die Familie dieser jungen Frau. Aber wenn ich denn tatsächlich des Öfteren so etwas wie ein Tiramisu mit wachen Sinnen esse und ein solches dann selbst zubereite und es dermaßen misslingt, muss ich doch merken, dass da etwas nicht stimmt oder zumindest aufgeschlossen dafür sein, dass mich andere auf technische und geschmackliche Details der Zubereitung aufmerksam machen, es sei denn, ich habe überhaupt gar kein Interesse daran, mich und meine Leistungen realistisch einschätzen zu wollen, sondern doch eigentlich nur das Bedürfnis, mich selbst zu beweihräuchern und von allen bestätigt zu bekommen, wie großartig ich bin und was ich alles kann – nur eben fern jeglicher Realität.
Und dann bringe ich eben andere Leute in die Verlegenheit, mich anlügen zu müssen.

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