Es schien mir daher recht ungewöhnlich, dass diese Frau eine solch kunstvoll gearbeitete Lanze führte. Über Waffen wie diese verfügten zu den meisten Zeiten jedenfalls nur Könige und Höhergestellte – oder einige wenige Wohlhabende. Allerdings erinnerte ich mich, dass man eine solch aufwändige, ja geradezu liebevolle Gestaltung wie sie dieser Lanze angediehen war, durchaus auch bei kultischen Gegenständen fand. Vor allem der reichhaltig angebrachte Zierrat war ja für einen Kampf auf Leben und Tod ausgesprochen unpraktisch.
All diese Betrachtungen mögen angesichts dessen, dass es sich hier ja ‚nur’ um einen Traum handelte, recht weitschweifend erscheinen, doch liefen sie in Sekundenbruchteilen in meinem Bewusstsein ab, ohne dass ich sie ausgiebig hätte anstellen müssen – sie waren mir einfach gewärtig. Und ich erachtete es durchaus als sinnvoll, diesen Erkenntnissen, die sich mir auf solch intuitive Weise vermittelten, Beachtung zu schenken, denn dieses Traumszenario, so rätselhaft es auch anmutete, schien mir doch irgendwie einen Sinn zu vermitteln, wenn ich auch noch nicht so recht zu erkennen vermochte, welchen. Und sicherlich kam dieser Frau darin eine besondere Bedeutung zu. Denn in unserer gegenseitigen Durchdringung versinnbildlichte sich ja die äußerste Form von Nähe, die man sich nur denken konnte. Das mochte schon nahelegen, anzunehmen, dass mein Traum damit einen Fingerzeig geben wollte, dass doch eine engere Verbindung zwischen mir und dieser Frau bestand. Und nicht zuletzt, wenn man jemanden vor sich hat, vermag man sich ja aus dessen äußerem Erscheinungsbild einen recht guten Eindruck von seiner Person zu verschaffen. Doch da sich diese Frau ja praktisch in mir befand, war ich eben darauf angewiesen, meine Schlüsse aus den wenigen Anhaltspunkten zu ziehen, die ich hatte. Immerhin ahnte ich schon in dieser anfänglichen Phase meines Traumes, dass all diese Beobachtungen noch von Bedeutung sein sollten. Wohl gab es da eine Instanz in meinem Bewusstsein, die intuitiv wusste, welche Bedeutung jenen Symbolen zukommt, die wir in unseren Träumen vorgeführt bekommen, während das alles meinem Verstand eher noch ein Buch mit sieben Siegeln war.

Gerade als ich mich in meinen Gedanken noch mit dem Rätsel beschäftigte, das mir mein Traum hier aufgegeben hatte, schien es sich auch schon von selbst zu lösen, denn offenbar verfügte diese Lanze nicht über eine geschärfte metallene Spitze, wie das bei einer richtigen Waffe der Fall hätte sein müssen und mit der die Frau gegen die harte Verkrustung eigentlich sogar mehr hätte ausrichten können als mit dem Spaten. Doch immer, wenn sie damit auf die Verkrustung einstach, verbog sich die Spitze der Lanze so lasch als bestünde sie aus Gummi. Also handelte es sich wohl doch eher um einen kultischen Gegenstand. Diese eigenartige, ungeeignete Gerätschaft erschwerte der Frau die Arbeit an der Verschmutzung natürlich erheblich. Sie tat mir aufrichtig leid, wie sie sich angesichts der offensichtlichen Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen tapfer aber erfolglos damit abmühte. Das Ganze machte auf mich irgendwie den Eindruck, als ob die Frau diese seltsame Aufgabe schon vor langer Zeit als Strafe aufgebrummt bekommen hatte. Es handelte sich bei ihr wohl um so etwas wie einen weiblichen Sisyphos am Straßenrand.
Als ich sie so eine Weile bei ihrer Arbeit beobachtet hatte, fiel mir auf, dass diese Frau ihre Aufgabe mit einem bewundernswerten Gleichmut verrichtete. Sie ärgerte sich nur immer, wenn sich der noch recht wirkungsvolle Spaten für kurze Zeit in die Lanze verwandelte, die für ihre ohnehin schon so mühevolle Arbeit offenbar völlig untauglich war. Aus der Art, wie sie dann unwirsch auf die verkrustete Masse eindrosch, war deutlich zu ersehen, wie abgenervt sie über diese ständige Erschwernis ihrer Arbeit war, doch sobald sich die mysteriöse Gerätschaft wieder zurückverwandelt hatte, arbeitete sie unverzagt weiter. Die Disziplin und die Tapferkeit, die sie angesichts dieser kaum lösbar erscheinenden Aufgabe an den Tag legte, beeindruckten mich zutiefst und das Maß an Bewusstheit, das mir der Traum gelassen hatte, erlaubte es mir, recht frei über die sich hier abspielende Szene zu philosophieren. So schweifte ich innerhalb meines Traumes doch recht ungebunden in meinen Gedanken ab zu einem Bedauern darüber, dass ich im Deutschland meiner Zeit immer weniger Menschen kannte, die eine solch bewundernswerte Einstellung zu ihren Aufgaben zeigten – obwohl sich eine solche Haltung doch eigentlich als selbstverständlich verstehen sollte. Dieses Gefühl des Bedauerns brachte mir wiederum schmerzlich die Erinnerung an verlorene Werte und Tugenden unserer Gesellschaft ins Bewusstsein.
Hatte es nicht Zeiten gegeben, zu denen es eine Selbstverständlichkeit gewesen war, auch unangenehme Aufgaben mit Gleichmut und Beharrlichkeit anzugehen? Oder waren solche Überlegungen nur sentimentale Illusionen über bessere Zeiten, die es so nie gegeben hatte? Denn eigentlich kam es ja nicht darauf an, wie es früher einmal anders gewesen sein mochte. Wichtig war, dass es für mich ganz persönlich immer eine Frage meiner tiefsten Überzeugung gewesen war, mich für die mir wichtigen Belange auch entschlossen einzusetzen. Ich hatte über die Zeit hin stets an dieser persönlichen Einstellung festgehalten, auch wenn ich in der heutigen Zeit dafür oft nur noch mitleidig belächelt wurde. Und leider nimmt ja die Anzahl der Menschen, die dazu neigen, alles, was auch nur entfernt nach Arbeit aussieht, zunächst einmal als eine unangemessene Zumutung zu empfinden, stetig zu.
Doch vor allem erkannte ich, als ich diese Frau beobachtete, etwas ganz Entscheidendes. An der Art und Weise, wie sie sich dieser vertrackten Aufgabe stellte, sah ich, dass diese Frau zu kämpfen wusste – damit kannte ich mich ja aus. Über all diese Betrachtungen erwuchs in mir eine tiefe Sympathie und ein inniges Mitgefühl für die Frau in meinem Traum, ja ich fühlte mich durch die gerade festgestellte Gemeinsamkeit tief in meiner Seele mit ihr verbunden. Wohl war es auch so, dass sich mein Herz für sie entflammte, da sie ja eine sehr attraktive Frau zu sein schien.
Ich fühlte mich jedenfalls so stark zu dieser tapferen Frau hingezogen, dass ich langsam zu ahnen begann, worin der tiefere Sinn und die höhere Bedeutung unserer eigenartigen Durchdringung liegen mochte. Jedenfalls nahm die Frau keine Notiz von meiner Anwesenheit und fuhr unbeirrt in ihrer Arbeit fort. Offenbar war sie in diese so vertieft, dass sie mich gar nicht bemerkte. Als ich allerdings zu einem späteren Zeitpunkt, da ich noch mehr über die Zusammenhänge, in denen dieser Traum stand, erfahren hatte, noch einmal darüber nachdachte, schien es mir auch gut möglich, dass unser Ineinanderbefinden, das auf mich so sonderbar wirkte, für sie eine selbstverständliche Vertrautheit war und dass der Grund dafür, dass sie mir seltsamerweise keine besondere Beachtung schenkte, auch darin liegen mochte.
Dieser Traum gehörte zu der Art von Träumen, die man eher in der Beobachterrolle erlebt und in denen man nicht selbst in die Handlung eingreift. Doch da ich eine so starke Verbundenheit mit dieser Frau fühlte, konnte ich nicht länger nur zusehen. Ich hatte gerade den Entschluss gefasst, ihr kameradschaftlich bei der Arbeit zur Hand zu gehen, da kam mir eine bestimmende männliche Stimme zuvor, die irgendwie aus dem Off ertönte:
„Nein, ein paar Meter zurück! Allende ist es.“

Dieser Beitrag hat einen Kommentar.

  1. sehr gerne Meinungen und Kommentare zu diesem Beitrag

    Name und E-Mail sind für Kommentare NICHT erforderlich, obwohl es auf einigen Browsern anders angezeigt wird – ist wohl ein technisches Problem

Schreibe einen Kommentar

Menü schließen