ein Traum

 

Der erste Traum

[Anm. des Autors: Der Erzähler und seine Frau versuchen mit Hilfe der Paartherapeutin Frau A ihre Ehekrise zu meistern und haben die ersten Sitzungen mit ihr absolviert. Diese bittet nun das Paar darum, ihre Träume aufzuschreiben. Der folgende Textauszug lässt sich auch anhand der Inhaltsangabe im Exposee dem Kontext der Geschichte zuordnen.]

Frau A hatte uns gleich einen ganzen Packen nützlicher Hinweise geschnürt und mit auf den Weg gegeben, so dass wir fürs Erste einmal mit gutem Rat versorgt waren. Als eine weitere Maßnahme ihrer Therapie forderte sie uns dazu auf, unsere Träume aufzuschreiben. Diese Aufforderung erfüllte mich allerdings mit einer gewissen Skepsis, denn ich vermutete sogleich, sie könne aufgrund ihres Fachwissens aus unseren Träumen irgendwelche Informationen gewinnen, die womöglich etwas zu viel über uns preisgaben.
Ich selbst kannte mich ja mit Träumen nicht so richtig aus und ich vermochte daher nicht abzuschätzen, welche Einblicke es ihr bescheren würde, wenn sie die Inhalte unserer Träume erfuhr. Es war mir immer unangenehm, wenn andere Leute etwas über mich mitbekamen, über das ich keine Kontrolle hatte. So hatte ich kein gutes Gefühl bei der Vorstellung, dass sie sich mit unseren Träumen befassen würde, obwohl mir im Grunde schon bewusst war, dass Frau A uns ja nur helfen wollte. Etwas tiefer in meinem Inneren dämmerte mir sehr wohl, dass derartige Bedenken doch eigentlich recht unsinnig anmuteten und für einen kurzen Augenblick wurde mir dadurch selbst etwas unangenehm bewusst, wie tief verwurzelt mein Misstrauen sein musste, wenn ich sogar gegenüber einem Menschen, der es doch nur gut mit mir meinte, derartige Bedenken an den Tag legte. – Aber das war ja immerhin nicht ohne Grund so! Ich hatte schließlich genügend schlechte Erfahrungen machen müssen.

Doch Frau A erklärte die Arbeit mit Träumen ernsthaft zu einem wichtigen Teil der Therapie, also stellte ich meine heimlichen Bedenken erst einmal zurück. Hinzu kam, dass ich eine Praktik wie die der Traumdeutung ohnehin eher in den Bereich von Hellseherei und Mythen verortete. Immerhin erinnerte ich mich, gehört zu haben, dass es in der wissenschaftlichen Psychologie tatsächlich ernsthafte Ansätze gab, die der Deutung von Träumen eine gewisse Relevanz zubilligten. Vor diesem Hintergrund konnte ich ihrer Aufforderung denn doch noch etwas abgewinnen. Meine Frau dagegen sah überhaupt nicht ein, warum sie sich mit ihren Träumen beschäftigen sollte, denn sie war ja der festen Überzeugung, dass die ganze Schuld an unserer Misere mir zuzurechnen war und außerdem war es ja sowieso ich, mit dem irgendetwas nicht stimmte. So schenkte sie ihren Träumen kaum Beachtung. Ich hingegen empfand, dass wir beide in unserer Beziehung Fehler gemacht hatten und war entschlossen, für meinen Anteil daran geradezustehen und von mir aus jedenfalls alles zu tun, um zu einer Wiedergutmachung oder Besserung beizutragen. So war es denn letztlich mein Pflichtbewusstsein, das mich dann doch veranlasste, fortan ernsthaft zu versuchen, mich jeden Morgen an meine Träume zu erinnern.

In einer der folgenden Nächte hatte ich dann auch tatsächlich einen bemerkenswerten Traum. Der war allerdings so ungewöhnlich, dass ich mich sicherlich auch ohne die besondere Aufforderung von Frau A an ihn erinnert hätte.
Aus heutiger Sicht ist es für mich nicht mehr verwunderlich, dass ich gerade zu jener Zeit einen solchen Traum hatte, denn zum einen verhält es sich ja grundsätzlich so, dass wenn man einmal auf Dinge hingewiesen wird, denen man zuvor keine Beachtung geschenkt hat, man sie auf einmal wahrzunehmen beginnt, zum anderen war dieser Traum ganz offensichtlich eine Folge des Einflusses, den Frau A auf mich ausübte. Die aufrichtige Zuwendung, die sie mir entgegenbrachte, schien tatsächlich eine Veränderung meines Befindens zu bewirken. In einem der Gespräche nannte sie das einmal ‚spirituelle Öffnung’.
Damals konnte es jedoch geschehen, dass ich von diesem denkwürdigen Traum überrascht wurde, denn ich war mir zu jener Zeit noch nicht bewusst, welche Bedeutung unseren Träumen für unser seelisches Befinden zukommt. Es handelte sich um einen jener Träume, die sehr detailreich ausgestaltet sind, die man ausgesprochen lebendig erlebt und deren Inhalte emotional so stark besetzt sind, dass sie einen meist zutiefst berühren. Sie erreichen damit eine außerordentliche Wirklichkeitsnähe, über die sie es vermögen, den Träumenden auf eine ganz besondere Weise zu vereinnahmen und die Aufmerksamkeit selbst im Schlafe so weit zu wecken, dass sie noch im Wachzustand deutlich erinnerbar bleiben. Bei diesen besonderen Träumen bleibt die Stimmung, in die sie den Träumenden hineinziehen, meist recht lange erhalten und beeinflusst das Befinden des Träumenden über mehrere Tage oder länger.
Heute weiß ich allerdings erheblich mehr über Träume. So weiß ich nicht nur, wie haarsträubend unbedarft es ist, die Bedeutung von Träumen grundsätzlich zu unterschätzen, ich bin mittlerweile auch damit vertraut, mit welch unglaublicher Artenvielfalt unser Traumleben aufzuwarten vermag.
So handelte es sich bei diesem bemerkenswerten Traum um einen aus jener Kategorie, die man in unserem Kulturkreis einmal als ‚große Träume’ bezeichnet hat. Es sind Träume, die den Träumenden auf die beschriebene Weise zutiefst berühren und ihm gewöhnlich Inhalte von besonderer Bedeutung vermitteln, doch, wohl um diesen auch den entsprechenden Nachdruck zu verleihen, ihn meist auch heftig erschüttern. Es gab einmal eine Zeit, da wusste man auch in unserem Kulturkreis noch ganz intuitiv um den Belang solcher Träume und versuchte daher gemeinhin, sie zu deuten, doch in unserer modernen Zivilisation ist das Bewusstsein dafür, wie auch für die so wichtige Vorstellung von solchen großen Träumen überhaupt, weitgehend verloren gegangen.
Ganz Kind meiner Zeit, hatte auch ich damals die Bedeutung von Träumen vollkommen unterschätzt. Sie streiften meist nur kurz meine Aufmerksamkeit, wenn sie wieder einmal durch das eine oder andere kuriose Szenario aus der Nacht in Erinnerung geblieben waren. Doch im Wesentlichen waren sie für mich eine eher belanglose Angelegenheit.
Aus heutiger Sicht kann ich da meiner damaligen Blauäugigkeit nur milde Nachsicht angedeihen lassen. Ich hatte mir zwar auf dem Feld der Psychologie das Wissen eines ambitionierten Laien angeeignet und hielt mir darauf auch einiges zugute, doch war mir dabei geflissentlich der so wichtige Umstand entgangen, dass Sigmund Freud mit seiner ‚Traumdeutung’ eigentlich schon im Jahre 1900 Träume in den Blickpunkt ernsthaften psychologischen Interesses gerückt hatte. Ein Versäumnis, dessen Unverzeihlichkeit mir eben die vorliegende Geschichte noch drastisch aufzeigen sollte. So, wie sich weiterhin erweisen sollte, dass dies nicht das Einzige war, in dessen Einschätzung meine selbstgefälligen Vorstellungen von Bedeutung und Umfang meiner Bildung und meines Wissens die Bodenhaftung verloren hatten und schließlich hart auf der Wirklichkeit aufschlagen sollten.
In der Folge der Ereignisse, von denen ich hier berichte, musste ich diesen Irrtum jedenfalls sehr bald einsehen. Mittlerweile habe ich diesen Missstand auch weitgehend ausräumen können und so weiß ich heute eben nicht nur, wie wichtig unsere Träume für das Verständnis unseres Seelenlebens sind und wie wertvoll sie als Ratgeber in entscheidenden Lebenssituationen sein können, ich weiß auch, dass es im Grunde eine ganz natürliche Funktionsweise der Psyche ist, wenn sie uns in wichtigen Phasen unseres Lebens solche großen Träume zuteil werden lässt, denn – und das ahnte ich damals eben nicht im geringsten – sie scheint ganz offensichtlich eine Art eigenständiger Intelligenz zu besitzen.
So scheint sie zu jeder Zeit bestens darüber orientiert zu sein, ob in unserem Leben gerade ein wichtiger Entwicklungsschritt heransteht, den wir jedoch nicht wagen, zu tun oder aber in diesem Leben gerade etwas gewaltig schief läuft, vor dem wir jedoch die Augen verschließen. Und sie hat ganz offenbar nicht nur den Willen sondern auch die Macht, in solchen Fällen regulierend einzugreifen. Eine der wichtigsten Handhaben, über die sie zu diesem Zwecke verfügt, sind unsere Träume. So vermittelt sie uns über diese ganz bestimmte Inhalte und ihre Absicht ist es dabei, dass wir doch einmal unsere Aufmerksamkeit auf diese richten mögen. Und wenn es sich dabei um besonders wichtige Inhalte handelt, wählt sie eben eine entsprechend dramatische Darbietung.
Dann hat man einen solchen großen Traum.

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