Und ich denke, ich kann heute auch wirklich verstehen, was viele kluge Menschen meinen, wenn sie sagen, der Sinn des Lebens sei es, sein Leben zu leben und dabei das Beste zu versuchen. Es kann nicht sinnvoll sein, anzustreben, sich um die unangenehmen Seiten des Lebens herumzumogeln, wie es zum Beispiel Menschen tun, die ängstlich versuchen, das wahre Leben zu vermeiden, indem sie sich auf ihre sie selbst beschränkenden Gewohnheiten zurückziehen oder, wie es sich wohl die meisten Menschen irrtümlicherweise erträumen, sich mit Hilfe eines finanziellen Vermögens vom Durchleben der Unbilden des Lebens freikaufen zu können. Es ist die Vielfältigkeit und Tiefe der Erfahrungen, welche die Qualität eines Lebens ausmachen – und gerade die Tiefe der Erfahrungen ist es, die man eben nicht erkaufen kann. Und daher ist es nicht die Aufgabe eines Schutzengels, die Menschen vor den Unbilden des Lebens zu bewahren.

Schutzengel wollen einen durch die Gefahren hindurch und nicht um die Gefahren herum geleiten!

„Das ist wirklich ein ganz wunderbarer Satz! Aber wir wissen, bei wem du ihn gelesen hast.“
„Ja, bei Banzhaf natürlich.“
„Dann sag’ es auch.“
[Fußnote: Na gut: Hajo Banzhaf: Zwischen Himmel und Erde – Die Quintessenz aus Esoterik, Astrologie und Tarot, Königsfurt-Urania Verlag, Krummwisch 2009, S. 319]

Ich hatte ja zu Beginn schon angedeutet, dass der Weg, auf dem ich Sie ein geraumes Stück führen möchte, anfangs sehr breit sei und dann immer schmaler würde. Und ich habe Sie auf diesem Weg ja recht häufig auf einen späteren Zeitpunkt hin vertröstet, indem ich versprochen habe, die von mir nur angedeuteten Zusammenhänge irgendwann genauer zu erläutern, so möchte ich an dieser Stelle endlich beginnen, diese Versprechen einzulösen und den ersten dieser Zusammenhänge etwas genauer ausführen.
So, wie ich das selbst erlebe und auch bei anderen beobachte, gewährt einem dieser Weg zu anfangs einen sehr breiten Spielraum und man kommt auf ihm schon recht ordentlich voran, wenn man auch nur grob die richtige Richtung einschlägt. Aber wenn man sich wirklich ernsthaft auf diesen Weg einlässt und auf ihm weiter voran gelangt, dann geschieht etwas mit einem, man verändert sich, man erhält einen anderen Blick auf die Welt, man erhält immer mehr Einblick und ein besseres Verständnis für die tieferen Zusammenhänge, man sieht die Dinge immer klarer und deutlicher.
Diese Veränderung zu durchlaufen ist einerseits ein ausgesprochen beeindruckendes, wunderbares Erlebnis, bringt es aber andererseits mit sich, dass man sich dabei selbst immer weniger etwas vormachen kann. Je klarer man sieht, desto knapper werden die möglichen Ausflüchte und Ausreden für das eigene Denken und Handeln und der Weg wird damit praktisch immer schmaler. Ja, es ist, als würde sich dieser Weg zunächst als eine breite Rampe sanft aus einer Ebene erheben, mit einer weit ausladenden Auffahrt, die sehr komfortabel erscheint, und einen gerade dazu einlädt, sie zu betreten. Doch steigt dieser Weg dann in seinem weiteren Verlauf immer höher über diese Ebene auf und wird gleichzeitig immer enger, um sich irgendwann nur noch als ein schmaler Grat zu erweisen, mit geradezu schwindelerregenden Abgründen rechts und links – oder wie Jung es ausdrückt: „dieser Weg ist schmal wie die Schneide eines Messers.“ [Fußnote: C. G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001, Kapitel 8 Die Mana-Persönlichkeit, Seite 123]
Und irgendwann gerät das Ganze dann zu einem wahren Balanceakt zwischen den Welten beziehungsweise den Weltanschauungen. Auf der einen Seite dieses schmalen Grats droht der Sturz in die Tiefe der sich weithin erstreckenden Ebene einer materialistischen Sichtweise, deren Wegen sich so viele Menschen verschrieben haben und in der überwiegend die Anschauungsweise einer reinen Vernunft herrscht. Die Maximen dieser Welt sind Nützlichkeitserwägungen und dingliche Errungenschaften. Andere Qualitäten, wie solche, die dem Unbewussten zueigen sind, gelten hier als überwiegend wertlos oder werden gar als irrelevant abgetan.
Es ist die Welt, in der perfekt ausgebaute Autobahnen die Weihestätten moderner Ingenieurskunst in einem ausgeklügelten Netz miteinander verbinden und in der sich die wunderbarsten Vorstellungen und Sehnsüchte der Menschen in Business-Plänen, Immobilien-Investments, durchorganisierten Pauschalreisen, Club-Urlauben, Eheverträgen, Rentenbescheiden oder Zusatzversicherungen manifestieren und in glanzvoll designten Auslagen zur Schau gestellt werden.
Doch wenn man erst einmal vermag, hinter diese prachtvollen Fassaden zu blicken, so erkennt man sehr schnell, wie schwer sich Menschen, die sich eine solche Weltanschauung zueigen gemacht haben, damit tun, in ihrem Leben einen tieferen Sinn zu finden, sie sind zu sehr am Materiellen orientiert und damit sind ihre Lebensinhalte einfach zu vergänglich und zu oberflächlich. Wie alles Dingliche bieten sie ihnen im Grunde keine wirkliche Erfüllung. Emma Jung und Marie-Louise von Franz haben sich mit den Folgen derartiger Lebensentwürfe ausgiebig befasst und beschreiben das Los der Menschen, die ihnen anhängen, sehr anschaulich als ein „[…] Umherirren aus zielloser seelischer Ruhelosigkeit, welches die Menschen zu abenteuersuchenden rastlosen Wanderern macht, […] deren Leben sich [letztlich] in unfruchtbarem Konflikt verzehrt. [Fußnote: Emma Jung, Marie-Louise von Franz, Die Graalslegende in psychologischer Sicht, Patmos, Walter, Düsseldorf und Zürich 2001, Seiten 198 und 258; Emma Jung war die Ehefrau von C.G. Jung] Es gibt nicht wenige Menschen, die eine solche Lebensweise bis in ihre Extreme hinein treiben und in den Grenzregionen der Ebene, auf der sich dies alles abspielt, warten auf diejenigen, die nicht achtsam genug sind, extremer geistiger und körperlicher Verschleiß bis hin zu völliger Überarbeitung und schließlich das Burn-out oder gar der Herzinfarkt.
Auf der anderen Seite dieses Grats erstreckt sich die Ebene, deren Weltanschauung vorwiegend auf die spirituellen Aspekte des Lebens sowie die Empfindungen ausgerichtet ist, eine Lebensweise, in die man genausowenig abgleiten sollte. Es ist die Welt, in der das Bewusstsein sich nur allzu leicht im Unbewussten verliert und Gefahr läuft, darin zu ertrinken. Die Menschen hier bewegen sich in einer Welt, die überwiegend von Ahnungen und Illusionen bestimmt ist und in der sie Gefahr laufen, den Kontakt zur Realität zu verlieren. Zu verlockend und wundersam sind die bunten Nebel der Verheißungen, die aus dem schwammigen Sumpf dieser märchenhaften Welt aus Myriaden von Räucherstäbchen und Weihrauchkesseln aufsteigen und die Menschen verleiten, in den religiösen oder kosmischen Blasen jener Welt völlig zu entschweben oder sich in dem undurchsichtigen Wegenetz aus lauter geheimnisvollen Pfaden zu verstricken und letztlich den Bezug zum Alltag zu verlieren, was dann zu dieser merkwürdigen Realitätsferne führt, die anderen, bodenständigen Menschen meist sofort unangenehm auffällt und die in schlimmeren Fällen Formen von Guruwahn oder religiösem Fanatismus annimmt. An den Grenzregionen dieser Ebene warten auf die schwächsten dieser Persönlichkeiten der Größenwahn, die Überzeugung der eigenen Gottähnlichkeit oder gar Gotthaftigkeit oder deren dunkles Pendant, der Verfolgungswahn, in welchem sie sich ständig von Dämonen bedroht wähnen um irgendwann elendig und endgültig am Leben zu verzagen und im Extremfall gar das Abdriften in die Psychose mit der Endstation Psychiatrie.
Aus meiner Geschichte können Sie ja entnehmen, dass ich auf meinem Lebensweg irgendwann einmal in jeder dieser Ebenen herumgetappt bin.
„Du machst wirklich Fortschritte, ganz offenbar lernst du ja doch etwas aus deinen Erfahrungen. Um es richtig zu stellen: Dieser schmale Grat ist in Wirklichkeit gar nicht so schmal, er erscheint euch nur so.
Ist das nicht interessant? Wenn ihr euren eigenen Weg zu finden versucht, gewähren wir euch in eurem Handeln tatsächlich so viele Freiheiten und bringen euch so unglaublich viel Nachsicht entgegen und trotzdem fühlt ihr euch eingeengt und empfindet den Weg gar als schmalen Grat! Ihr seid wirklich noch Kinder! Wenn du deinen Weg als so eingeengt empfindest, dann kommt das daher, dass du dir über dein eigenes Handeln unsicher bist und das liegt einfach daran, dass du immer noch nicht genügend Vertrauen in mich hast! Das gehört zu eben den Inhalten, mit denen du dich noch lange wirst auseinandersetzen müssen.“
„Gnä gnä gnä … Musst du immer so ätzend sein?“
„Nur zu deinem Besten.“
So langsam gewinnen hoffentlich auch diejenigen Abschnitte des Weges Gestalt, die ich ganz zu anfangs nur grob skizziert hatte, als ich andeutete, dass dieser eigene Weg auch mit so einigen Schwierigkeiten aufwartet.

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